Das Thema "Theodor Ziehens psychologische Erkenntnistheorie" bietet mir Gelegenheit, gleich drei Dinge vorzustellen: zum einen den sicher den meisten von uns unbekannten Psychiater, Psychologen und Philosophen Theodor Ziehen, dann sein Verständnis von Psychologie und seine Philosophie, deren zentrales Thema die Erkenntnistheorie ist. Dabei zeigt schon die Bezeichnung 'psychologische Erkenntnistheorie', daß hier ein enger Zusammenhang besteht, den ich zu erhellen hoffe. Zum Schluß möchte ich noch kurz aufzeigen, warum mir für unser heutiges Nachdenken über unser Menschenbild Ziehens Ansätze beachtenswert erscheinen. Wer also war Theodor Ziehen?
Am 12. November 1862 wurde Georg Theodor Ziehen in Frankfurt am Main als erstes von drei Kindern geboren. Sein Vater Eduard Ziehen war als Schriftleiter einer literarischen Unterhaltungsbeilage bei der Frankfurter Postzeitung, verlor aber seine Anstellung, als 1866 nach dem Preußisch-Österreichischen Krieg diese Zeitung aus politischen Gründen geschlossen wurde. So mußte die Familie von dem leben, was Eduard Ziehen als Privatlehrer und durch die Aufnahme junger Ausländer in sein Haus verdiente. Als Schüler schon beschäftigte sich Theodor Ziehen mit Schopenhauer's "Welt als Wille und Vorstellung" und mit Kant's "Kritik der reinen Vernunft" und entschloß sich, Philosoph zu werden.
Das Geld reichte aber nicht zu einem Studium, und er war auf ein Stipendium der Reformierten Gemeinde in Frankfurt angewiesen, welches ihm als gutem Schüler wohl gewährt wurde - allerdings gab es dieses Stipendium nur für ein Studium der Medizin. So ging Theodor Ziehen zunächst für vier Semester nach Würzburg und nach bestandenem Physikum nach Berlin, um Medizin zu studieren.
Nebenher verlor er seinen Wunsch, sich mit Philosophie zu beschäftigen, nicht ganz aus dem Auge und las Hume, Spinoza, Platon, studierte die skeptische Philosophie des Sextus Empiricus und entdeckt Berkeleys Ideen für sich. Um wenigstens die Nähe der Philosophie auch in der Medizin zu haben, wählte er die Psychiatrie als medizinisches Spezialfach. In Berlin studiert er intensiv Hirnanatomie und Hirnphysiologie, nebenher hört er noch Mathematik und theoretische Physik. Als Ende 1883 zuerst sein Vater und Anfang 1884 auch seine Mutter starb, war er gezwungen, schnell auf eigenen finanziellen Füßen zu stehen. Er legte im neunten Semester seine Dissertation ab und hatte eben noch das Geld, seine erste Stelle als Voluntärarzt in einer Privatirrenanstalt in Görlitz anzutreten.
Einer der damals wohl bekanntesten Irrenärzte Deutschlands, Otto Binswanger, der auch international großes Ansehen besaß, bat Ziehen 1886 zu ihm nach Jena als Oberarzt zu kommen und sich bei ihm zu habilitieren; was Ziehen dankbar annahm. Hier in Jena war es dann Theodor Ziehen, der als Oberarzt den am 18. Januar 1889 eingelieferten Friedrich Nietzsche überwiegend behandelte.
Ziehen erhielt 1900 einen Ruf als Ordinarius der Psychiatrie nach Utrecht, wo er sich auch ein eigenes psychologisches Labor einrichten konnte. Dort blieb er bis 1903, ging für ein Semester nach Halle und wurde dann als Ordinarius nach Berlin an die neuerbaute Klinik für Nervenheilkunde der Charité berufen. Hier hatte er, der doch eigentlich Philosoph werden wollte, als Psychiater - wenn ich das mal so salopp ausdrücken darf - das erreicht, was man als Psychiater damals erreichen konnte...
An dieser zum Teil noch nicht bezogenen Klinik hatte er neben seiner ärztlichen Tätigkeit - er hatte auch schon eine sehr große Zahl von Privatpatienten - viel Organisationsarbeit zu leisten neben Lehrverpflichtungen, Einrichtungen der Labors und vieles mehr, so daß er das Gefühl hatte, "in die Psychiatrie endgültig eingesperrt zu werden". [...]
So reifte in ihm der Entschluß, sich "ganz in die Einsamkeit und in die Philosophie zurückzuziehen". Er kaufte sich eine kleine Villa in Wiesbaden und zog 1912 mit seiner Frau und seinen drei Kindern dorthin. 1917 nahm er dann einen Ruf auf einen Philosophischen Lehrstuhl in Halle an, wo er neben Psychologie - die damals immer noch ein Teilgebiet der Philosophie war - auch Geschichte der Philosophie und andere philosophische Disziplinen las. Nach seiner Emeritierung 1930 zog er mit seiner Familie wieder nach Wiesbaden, wo er 1950 kurz nach seinem 89. Geburtstag starb.
Schaut man sich die Zeit an, in der Ziehen seine Werke schrieb, muß man festhalten, daß damals Psychologie und Philosophie weder organisatorisch noch theoretisch klar getrennt waren, die Auseinandersetzung über die Zuordnung der Zuständigkeit zwischen beiden "Disziplinen" aber schon begonnen hatte (vgl. Schmidt 1995). So berichtet Ziehen über seine Arbeit:
[...] "Von der damals herrschenden Wundt'schen Psychologie hatte ich mich schon in Berlin freigemacht. Ich fand sie unfähig, die Erscheinungen des normalen und des krankhaften Seelenlebens zu erklären. Auf Grund meiner Beobachtungen hatte ich mir ein eigenes System der Psychologie aufgebaut. [...] Vorlesungen, die ich über physiologische Psychologie hielt, trugen zur raschen Entwicklung meiner Anschauungen viel bei. Im Jahre 1891 erschien auf Grund derselben die erste Auflage meines Leitfadens der physiologischen Psychologie." (Ziehen 1923 223f)
Und wenig später heißt es:
"Bei allen psychologischen, hirnphysiologischen und hirnanatomischen Untersuchungen der damaligen Zeit schwebte mir doch immer als Ziel ein gesamtes philosophisches System und als seine Grundlage eine alles Gegebene umfassende Erkenntnistheorie vor. Schon in der 1. Auflage meiner physiologischen Psychologie brachte ich dies in den Schlußsätzen der letzten Vorlesung deutlich zum Ausdruck." (ebd. 226)
Für Ziehen gehören die Bereiche Psychiatrie und Psychologie eng zusammen, da sie sich sowohl in ihren Methoden als auch in ihren Ergebnissen gegenseitig befruchten können. Zwei Aspekte sind hier wichtig: Einmal die Feststellung, daß Ziehen's Psychologie experimentelle physiologische Psychologie ist und seine vehemente Absetzung von der Lehre Wundt's.
Die Auszeichnung der Psychologie als einer experimenteller Disziplin ergibt sich für Ziehen aus ihrem Ziel, die Gesetze des Psychischen zu erfassen. Gesetze kann es aber, und hier folgt er dem aristotelischen Wissenschaftsverständnis, nicht von einem Einzelnen geben, sondern nur von dem, was verglichen werden kann. Daher auch Ziehens Hinwendung zur experimentellen Psychologie. Für ihn ist
"... das experimentelle Verfahren nichts anderes als eine systematische, auf zahlreiche Fälle sich erstreckende Untersuchung unter künstlich vereinfachten und zweckmäßig variierten, scharf definierten und daher jederzeit rekonstruierbaren Bedingungen." (Ziehen 1926, 2)
Die Betonung von Experiment und Empirie in Naturwissenschaft, Psychologie, Ästhetik usw. hängt nach meiner Auffassung mit Ziehen's Konzeption von 'Gesetz' zusammen: das Auffinden von Gesetzen kennzeichnet alle Wissenschaften. Um uns in der Welt zu orientieren, suchen wir überall nach gleichen oder ähnlichen Dingen oder gleichen oder ähnlichen Vorgängen. So entdecken wir im Gegebenen überall Relationen, Beziehungen wie oben und unten, fern und nah, vorher und nachher usw. Ferner stellen wir fest, daß dieselben Relationen stets mit bestimmten anderen Relationen verbunden sind, d.h. daß Relationen konstant sind. Solche konstanten Relationen nennt Ziehen Gesetze im weitesten Sinne. In der Frage, ob die Gesetze etwas von den Menschen in die Natur getragenes oder dort vorgefundenes sind, vertritt Ziehen die zweite Position. Wenn man das Gegebene als das einzige anerkennt, das es gibt, und wenn ferner in diesem Gegebenen Gesetzmäßigkeiten gefunden werden, dann sind die Gesetze im Gegebenen, aus dem sie der Mensch übernimmt. In seiner 1927 gehaltenen Rektoratsrede unter dem Titel "Das Problem der Gesetze", faßt Ziehen seine Position so zusammen:
"Die reinen Gesetze des Verstandes, unter denen unser menschliches Erkennen steht, einschließlich der logischen Gesetzmäßigkeit, können sehr wohl als Anpassung an die allgemeine Gesetzmäßigkeit alles Gegebenen aufgefaßt werden. Nicht das Denken der Menschen schreibt der Natur ihre Gesetze vor, sondern der Mensch hat von der Natur denken gelernt und erkennt mit Hilfe dieses Denkens die Gesetze der Natur. Auch die Gesetze der Logik sind zuerst Gesetze des Gegebenen, und aus dem Gegebenen hat sie das menschliche Denken übernommen." (Ziehen 1927, 26)
Den Begriff "Natur" entnimmt Ziehen hier der tradierten Fragestellung, streng genommen müßte er "Natur" durch "Gegebenes" ersetzen. Man darf "Natur" in diesem Zusammenhang also nicht ontologisieren.
Die weitere Auszeichnung der Psychologie als physiologische Disziplin betont, daß es um den Zusammenhang von psychischen und körperlichen Vorgängen geht. Dabei geht Ziehen zunächst von der Annahme aus, daß für eine Reihe von psychischen Vorgängen materielle Parallelvorgänge existieren, so daß die einen nicht ohne die anderen vorkommen. Dabei soll aber offen bleiben, wie das Verhältnis der beiden Reihen zueinander ist; ob sie unabhängig voneinander sind oder ob das Körperliche eine Funktion des Psychischen ist oder das Psychische eine Funktion des Körperlichen, soll erst am Schluß geklärt werden. Das Ziehen deswegen nicht gleich zu den Vertretern eines Parallelismus gerechnet werden will, verdeutlicht er z.B. in einem Aufsatz von 1924 zum Leib-Seele-Problem, in dem er den psychophysischen Parallelismus als etwas Methodisches ansieht:
"Um allen erkenntnistheoretischen Problemen und Erörterungen zu entgehen, stellte und stellt man sich meist auf den Standpunkt des psychophysischen Parallelismus, d.h. der Lehre von einer 'eineindeutigen' Zuordnung zwischen allen psychischen Vorgängen und bestimmten Hirnerregungen. Der Terminus 'Parallelismus' drückt diese Zuordnung durch einen Vergleich aus. So wenig befriedigend diese parallelistische Lehre wegen ihrer Unbestimmtheit - was bedeutet nämlich diese Zuordnung? - für die erkenntnistheoretische Betrachtung ist, so zweckmäßig erweist sie sich für die rein-empirische psychologische Forschung." (Ziehen 1924, 2)
Die Begriffe Materie und Seele versucht Ziehen dabei absichtlich zu vermeiden, "weil beide statt des ursprünglich gegebenen Mannigfaltigen eine neue, ganz hypothetische Einheit einführen" (Ziehen 1920, 2), wie er zu betonen nicht müde wird.
Ziehens vehemente Stellungnahme gegen die Wundtsche Lehre beruht auf der Ablehnung der Wundtschen Apperzeptions-Auffassung. Wundt hatte sie als theoretische Alternative gegen die von ihm als mechanistisch abgelehnte Assoziationspsychologie entwickelt. Mit diesem Konzept wollte Wundt deutlich machen, daß psychische Inhalte, die in den "Blickpunkt des Bewußtseins" gelangen, nicht als mechanische Kopplungen von Vorstellungen aufzufassen sind, sondern in erster Linie willensmäßig bestimmt sind. Empfindungen, Vorstellungen und auch Bewegungsanstöße mögen zwar durchaus bestimmten materiellen Veränderungen des Gehirns entsprechen, aber schon die Anknüpfung von Vorstellungen an Empfindungen, wie z.B. beim Wiedererkennen, beim Vergleichen oder Urteilen bedarf einer anderen Konzeption.
Die Assoziationspsychologie spielt zwar in Ziehens Ansatz eine wichtige Rolle, aber diese muß genau herausgestellt werden um zu sehen, daß die Kritik an dieser Assoziationspsychologie Ziehen nicht trifft. Er hat sich eigentlich Zeit seines Lebens gegen den Vorwurf, Assoziationspsychologe zu sein, wehren müssen. Die Kritik richtet sich gegen die Auffassung, aus den Assoziationsgesetzen ließen sich die Denkvorgänge ihrem Inhalt nach erklären. Diese Kritik teilt Ziehen durchaus, wenn er z.B. in seiner Autobiographie schreibt:
"Ich habe immer auf dem Standpunkt gestanden, daß nicht einmal die einfachste Empfindungsqualität wie blau sich aus den physiologischen Rindenvorgängen 'erklären' läßt. Erst recht habe ich dies bezüglich der Denkvorgänge immer abgelehnt." (Ziehen 1923, 224)
Für Ziehen ist die Reihenfolge aller aufeinanderfolgender Vorstellungen - angefangen von den einfachsten Ideenassoziationen über die Urteilsassoziationen bis zu den höchsten Denkbewegungen und den sich daran anschließenden willkürlichen Bewegungen durch psychophysiologische Gesetze - eben die sogenannten Assoziationsgesetze notwendig bestimmt. Im ebenfalls in diesem Band veröffentlichten Beitrag von Frau Ruschmeier wird die sich daraus ergebende Konsequenz eines durchgängigen Determinismus in der Interpretation durch Bernhard Rensch, eines Schülers von Theodor Ziehen, vorgestellt. Daß Rensch dabei Ziehens Ansatz in bestimmter Weise ontologisiert, gilt es hier nur anzumerken.
Der Inhalt der Vorstellungen und ihrer Verknüpfungen wird eben für Ziehen nicht dadurch hervorgebracht. Die Assoziationsgesetze geben keinerlei Auskünfte darüber, welche psychischen Prozesse den einzelnen Erregungen und Erregungskomplexen entsprechen. Ziehen selber sieht seinen Fortschritt gegenüber den überwiegend englischen Assoziationspsychologen und -philosophen durch den von ihm als Konstellation bezeichneten Faktor. (vgl. Ziehen 1925, 132 und Ziehen 1923, 224 f.)
Ich will diesen Faktor hier nicht näher erklären und dazu nur soviel anmerken, daß er mit der Ziehen'schen Konzeption von dem zusammenhängt, was das Psychische sei, welches die Psychologie zu untersuchen habe. Sein Kriterium für das Psychische lautet:
"Alles, was in unserem Bewußtsein gegeben ist, was wir erleben, und nur dieses ist psychisch. Materiell ist, was wir hinaus in Raum und Zeit versetzen als Ursache unserer Empfindungen, materiell ist der Baum, dessen Existenz wir annehmen, wenn wir die Gesichtsempfindung eines Baumes haben. Psychisch ist diese Gesichtsempfindung selbst, insofern sie in unserem Bewußtsein ist. Psychisch und bewußt sind hier im Beginne unserer Betrachtungen durchaus identisch; wir können uns gar keine Vorstellung machen von dem, was eine unbewußte Empfindung, Vorstellung usw. wäre; wir kennen Empfindungen und Vorstellungen nur, insofern sie uns bewußt sind." (Ziehen 1920a, 4 f.)
Hiermit haben wir die zwei wichtigsten Elemente kennengelernt, die für Ziehens Erkenntnistheorie fundamental sind: Das Gegebene - das heißt das im Bewußtsein erlebte oder das "Psychische" - und die Suche nach Gesetzmäßigkeiten in diesem Gegebenen. Ich möchte nun kurz zeigen, wie Ziehen ausgehend von diesen beiden Elementen seine Erkenntnistheorie entwickelt. Er selber hat sie zuerst in einem "Psychophysiologische Erkenntnistheorie" überschriebenen Werk 1898 vorgestellt. 1913 folgte dann die "Erkenntnistheorie auf psychophysiologischer und physikalischer Grundlage" und 1934 und 1939 erschienen zwei der auf drei Bände konzipierten "Erkenntnistheorie". Der dritte Teil, an dem er bis zu seinem Tode arbeitete, ist nur Teilweise als Manuskript im Nachlaß erhalten.
Systematischer Ausgangspunkt ist für Ziehen das Gegebene, welches ich eben schon kurz als "das Psychische" charakterisiert habe. Dabei steht "das Psychische" in Apostrophen, da Ziehen in seiner physiologischen Psychologie die Begriffe "materiell" und "psychisch" eigentlich nicht verwenden möchte. Seiner Meinung nach ist dieser Gegensatz falsch gebildet. Was wir haben, sind für ihn zunächst nur unsere Empfindungen und Vorstellungen in ihrer Mannigfaltigkeit, die man nur, um sich eine Vorstellung von dem Gemeinten machen zu können, als "das Psychische" beschreiben kann. Dieses Gegebene nennt Ziehen auch "Gignomene". Die Konzeption des Gegebenen als "Psychisches", die Ziehen als "erkenntnistheoretischen Fundamentaltatbestand" bezeichnet, verdankt er wohl im wesentlichen Berkeley. Ziehen greift immer wieder auf Beispiele zurück, um diesen "rein-empirischen Fundamentaltatbestand" zu veranschaulichen:
"Sie sehen z.B. jetzt diese leuchtenden Gasflammen, und Sie werden mir sagen, daß Ihnen hier doch die materiellen Prozesse in erster Linie gegeben sind. Aber überlegen Sie, bitte, einen Augenblick, was Ihnen gerade in diesem Beispiel gegeben ist! Doch nicht die Flamme selbst, sondern nur die Gesichtsempfindung der Flamme, also ein psychischer Prozeß, und sie knüpfen daran nur die Vorstellung, daß diese Empfindung durch einen materiellen Gegenstand, nämlich die Flamme, die leuchtenden Gasteilchen usw. verursacht wird. Gegeben ist Ihnen also die Empfindung und die Vorstellung eines sie verursachenden materiellen Objekts oder Prozesses, sonst nichts. Sie könnten sich vielleicht von der Tatsächlichkeit des materiellen Objekts überzeugen wollen und Ihre Hand in die Flamme stecken: aber auch dadurch würden Sie aus dem Bannkreis der Psychischen nicht entfliehen, Sie würden nur zu der Gesichtsempfindung der Flamme die schmerzhafte Berührungsempfindung der Flamme, des Verbrennens, hinzufügen, also doch wieder eine Empfindung. Darüber kann also ein Zweifel nicht bestehen: gegeben sind uns nur Empfindungen und aus diesen Empfindungen abgeleitete Vorstellungen." (Ziehen 1912d, 50 f.)
Für Ziehen hat Kant, wenn er davon spricht, daß uns nur "Erscheinungen" gegeben seien, diesen Fundamentaltatbestand ebenfalls anerkannt. Allerding versucht Kant dann noch nachzuweisen, daß diesen "Erscheinungen" noch "Dinge an sich" zugrunde liegen. Jedoch muß er deren absolute Unerkennbarkeit eingestehen, und er handelt sich folgendes Problem ein: Kant hatte ausdrücklich und- wie Ziehen betont - mit Recht das Erkennen der Beziehung "Ursache" auf die Erscheinungen beschränkt. Aber nun glaubt er als Ursache der Erscheinungen etwas jenseits der Erscheinungen liegendes - Dinge an sich - erkennen zu können. Mit der Feststellung dieses Widerspruchs schließ sich Ziehen einer Kritik an Kant an, wie sie unter anderem von Schopenhauer vorgebracht worden ist [vgl. Schopenhauer 1991, 556 f.).
Da sich Ziehen eng an Berkeley anschließt, trifft Kritik am Berkeleyschen Idealismus gegebenenfalls auch seine Philosophie zu. Daher werde ich kurz auf Kants "Idealismuskritik" eingehen. Hierbei kann es nicht um eine Darstellung der Kantschen Lehre gehen, aber die Aussagen Kants stellen - nicht zuletzt durch den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich entwickelnden Neukantianismus (vgl. Röd 1996, 347 ff.) - eine nicht zu umgehende Autorität dar, von der sich Ziehen absetzen muß.
Kant geht es darum, den Idealismus Berkeleyscher Art - so wie er ihn rezipiert hat (vgl. Breidert 1980) - zu widerlegen, da für diesen ja alle Dinge bloße Einbildung, reine Illusion seien. So argumentiert Kant in der transzendentalen Analytik unter der Überschrift "Widerlegung des Idealismus" wie folgt:
Er unterscheidet zwei Arten von Idealismus: der "problematische" Idealismus des Descartes hält nur die empirische Behauptung "ich bin" für unbezweifelbar, das Dasein der Gegenstände im Raum außer uns ist für ihn zweifelhaft und unerweislich; der "dogmatische" Idealismus Berkeleys erklärt das Dasein der Dinge im Raum für unmöglich, für bloße Einbildung, da er den Raum ohne Dinge als etwas Unmögliches auffaßt. Für Kant ist dieser dogmatische Idealismus unvermeidlich, wenn man den Raum als eine Eigenschaft der Dinge selbst betrachtet. Daß der Raum etwas anderes als eine Eigenschaft der Dinge ist, glaubt er in der transzendentalen Ästhetik nachgewiesen zu haben: der Raum ist demnach eine Anschauungsform a priori, die nicht aus der sinnlichen Erfahrung kommt, sondern sie erst ermöglicht. Der "problematische" Idealismus mit seiner Behauptung, daß es unmöglich sei, ein Dasein außer dem unsrigen durch unmittelbare Erfahrung zu beweisen, gilt Kant als vernünftig und einer gründlichen philosophischen Denkungsart gemäß. Er verlang nach einem hinreichenden Beweis, bevor er ein Urteil fällt. Und dieser Beweis muß belegen, daß wir von den äußeren Dingen auch Erfahrung haben, und nicht bloß Einbildung. Und dazu muß man beweisen, daß auch unsere innere Erfahrung, das Decartes'sche "ich bin", nur möglich ist, wenn man äußere Erfahrung voraussetzt (vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft B274f). Ziehen hat diesen Einwand ernst genommen und an verschiedenen Stellen seines Werkes immer wieder die Vorstellung des Raumes als aus der Erfahrung kommend dargestellt (vgl. Ziehen 1922, 58-93; 1913, 86-149; 1934, 120-178)
Im Anhang zu seinen "Prolegomena" erhebt Kant noch einen anderen Vorwurf gegen Berkeley, [...]
Aber man muß wohl sagen, Kant hat Berkeley zumindest in dieser Frage schlicht mißverstanden. An einer Stelle in Berkeleys "Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous" widerspricht Philonous dem Materialisten Hylas, als dieser aus seiner Theorie nur die Auflösung alles Festen und Soliden, welches doch so positiv gegeben sei, heraushört und sich gegen dieses Verwandlung in Illusion wehrt. Philonous - und damit Berkeley - sagt:
"Du mißverstehst mich. Ich will nicht Dinge in Vorstellungen verwandeln, sondern vielmehr Vorstellungen in Dinge. Denn jene unmittelbaren Gegenstände der Wahrnehmung, die nach dir nur Erscheinungen der Dinge sind, nehme ich für die wirklichen Dinge selbst." (Berkeley: Drei Dialoge 119)
[...]
Es bleibt aber nun die feste Vorstellung, daß dieser Baum, den ich sehe, für mich etwas materiell Existierendes zu sein scheint. Das kann auch Ziehen nicht einfach übergehen und er muß klären, worauf der Unterschied im Gegebenen beruht, den man - wie er meint fälschlich - im Sinne des Gegensatzes von Materie und Geist deutet. Seine Antwort lautet: Dieser Gegensatz beruht auf einer zweifachen Gesetzmäßigkeit, der diese Grundbestandteile unterworfen sind.
Das Gegebene, das Gignomen in Ziehens Sprache, läßt sich in zwei Komponenten oder Teilen zerlegen: einmal in ein Reduktionsteil oder Redukt und zum anderen in ein Parallelteil. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, müssen wir nur einmal sehen, wie die Physik zum Beispiel zu ihren Gesetzen kommt.
Die unter den Empfindungen feststellbaren Gesetzmäßigkeiten bestehen nur, wenn von bestimmten Komponenten abgesehen wird. Für das Fallgesetz ist z.B. die Farbe des vom Baum fallenden Apfels, seine scheinbare Größe, sein Geschmack überflüssig. Diese Eigenschaften werden durch Reduktion eliminiert, um dann zu Gesetzen zu kommen. Ziehen formuliert es so:
"Die Gesetzmäßigkeit ist geradezu von diesen Reduktionen abhängig oder - anders ausgedrückt - diese Reduktionen erzeugen die Gesetzmäßigkeit der Natur" (Ziehen 1898, 31)
Dies scheint zunächst ein Widerspruch zu dem vorher Gesagten, daß die Gesetzmäßigkeiten nicht vom Menschen in die Natur getragen würden. Nach Ziehen geht es hier um die Frage, ob die Gesetze ausschließlich subjektiv seien, und diese Vorstellung lehnt er als anthropozentrisch und geozentrisch ab. Ob die Gesetze also immanent oder transzendent sind, d.h. ob sie nur im Gegebenen existieren oder auch außerhalb, beruht für Ziehen auf einer fragwürdigen Voraussetzung, denn mit dem, was mit "außerhalb" der Gesamtheit alles Gegebenen gemeint sein könnte, können wir keine klare Vorstellung verbinden.
Jede Empfindung läßt sich zunächst mindestens in zwei Komponenten zerlegen: dem Teil, der nach der Reduktion übrigbleibt, und den Teil, der bei der Reduktion eliminiert wird. Den ersten Teil nennt Ziehen "reduzierte Empfindungen", "Reduktionsbestandteil" oder "Redukt". Wegen seiner Prägnanz verwende ich im weiteren Verlauf meiner Darstellung den Begriff "Redukt", abgekürzt R. Den zweiten Teil benennt er zunächst noch nicht, später bezeichnet er ihn als "Parallelbestandteil", "-Bestandteil", abgekürzt mit N.
Wie Ziehen das Verhältnis dieser beiden Teile zueinander erklärt, soll die folgende Skizze veranschaulichen:
Die "normale" Erklärung beschreibt das "Sehen" eines "Baumes" als die Wirkung der vom Baum ausgehenden "Lichtwellen" auf das Auge und durch eine Weiterverarbeitung der so empfangenen Daten durch das Gehirn, wie es in der Zeichnung oben schematisch dargestellt ist. Nach Ziehen läßt sich die Gesichtsempfindung G eines Baumes zerlegen in das Redukt R und den Parallelteil N, was Ziehen gerne auf die Formel G = R | N bringt. Die R-Teile des Baumes, also das, was man gewöhnlich als das naturwissenschaftliche Objekt "Baum" betrachtet, wirkt rein kausal auf den Rs-Teil des Sehapparates (von Ziehen zu besseren Unterscheidung als Rs bezeichnet). Damit meint Ziehen alles das an Baum und Sehapparat (Blätter, Äste, Lichtwellen, Auge, Nervenbahnen und -zellen, Hirnareale usw.), was man in einer kausalen Beschreibung erfassen kann; in der Zeichnung durch den gestrichelten Pfeil dargestellt. Gleichzeitig mit der kausal bewirkten Veränderung im Rs-Teil des Sehapparates, d.h. dem Auftreten eines bestimmten Zustandes im Gehirn, erfolgt eine Veränderung der Empfindung Baum: ich sehe den Baum in gewisser Größe, farbig, höre die Blätter im Wind rauschen usw. Dieses kann aber weder als physikalisch-kausale Wirkung auf den R-Teil des Baumes noch aus solche auf den Rs-Teil des Sehapparates verstanden werden, da keine mit Hilfe von Weg-, Zeit- oder Kraftstrecken angebbare Wirkung auf das naturwissenschaftliche Objekt "Baum" stattfindet. Die Wirkung erfolgt instantan und erstreckt sich nur auf den N-Teil des Baumes, und zwar als Parallelwirkung, was durch den gepunkteten Pfeil in der Abbildung ausgedrückt werden soll. Über diese parallel sich vollziehende "Rückwirkung" schreibt Ziehen:
"Diese Rückwirkungen unserer Hirnrinde sind natürlich individuell verschieden... Wir können nun diese Rückwirkungen in Abzug bringen oder, wie man auch sagen kann, 'eliminieren' und durch diese Elimination und Reduktion ein allgemeineres, nicht nur für ein einzelnes menschliches Individuum in einem Augenblick gültiges Bild unserer Empfindungswelt bilden. So gelangen wir schließlich zur Vorstellung einer Welt, die selbst nicht grün und blau, nicht warm und kalt ist, sondern nur eine Summe von Bewegungsenergien darstellt. Die Naturwissenschaft ist unausgesetzt mit diesen Eliminationen und Reduktionen beschäftigt, unablässig modelt sie an diesem allgemeinen Bild unserer Empfindungswelt." (Ziehen 1912, 54 f)
"Auch bitte ich Sie nur zu überlegen, was wir bei allen diesen Reduktionen tun: wir eliminieren nicht etwa das Psychische, sondern nur die individuellen 'Rückwirkungen' und gelangen dadurch zu allgemeineren Vorstellungen unserer Empfindungen. Es handelt sich also um allgemeinere Vorstellungen, nicht um Vorstellungen eines neuen ganz inhaltlosen 'Etwas', welches wir als Materie bezeichnen dürften." (Ziehen 1912, 55 f)
Ziehen stellt ebenso wie Berkeley nicht jede Art von Außenwelt als Einbildung in Frage. Das kann man nur meinen, wenn man zunächst davon ausgeht, daß unsere Empfindungen und Vorstellungen von den noch nicht wahrgenommenen Gegenständen verursacht werden und jetzt diese Gegenstände gestrichen werden sollen. Verlegt man die Garantie der Realität in solche Gegenstände, dann muß man mit Verleugnung dieser Gegenstände auch die Realität der Außenwelt leugnen. Wenn Ziehen sich dem Berkeleyschen "esse est percipi" anschließt, heißt das, daß man der phänomenal gegebenen Außenwelt nicht noch eine materielle Welt an sich unterlegen (oder vielleicht besser unterstellen?) müsse.
Sicherlich kann man sich auch mit Ziehen für das Phänomenale eine Ursache denken. Für ihn ist der Grund dessen, was uns gegeben ist, das Redukt des Baumes zum Beispiel, eigentlich weder etwas Psychisches noch etwas Materielles, sondern etwas Neutrales. Ziehen glaubt diese Auffassung auch schon bei Kant angedeutet zu findet, wenn dieser schreibt:
"Das transzendentale Objekt, welches den äußeren Erscheinungen, imgleichen das, was der inneren Anschauung zugrundeliegt, ist weder Materie noch ein denkend Wesen an sich selbst, sondern ein uns unbekannter Grund der Erscheinungen, die den empirischen Begriff von der ersten sowohl als zweiten Art an die Hand geben." (Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 379 f)
Zusammenfassend möchte ich Ziehens Erkenntnistheorie als eine Konstruktionslehre deuten. Das Gegebene wird zur Bildung von Gesetzmäßigkeiten zergliedert. Die so konstruierten Bestandteile ermöglichen das Auffinden von Gesetzen: Den Kausalgesetzen, die immer Zeiten und Wege der Wirkungen beinhalten und den völlig anders gearteten Parallelgesetzen, die immer instantan und ohne Wege wirken. Nicht zwei Substanzen bilden den Grund des Gegebenen, sondern es läßt sich nach zwei Gesetzmäßigkeiten konstruieren aus einem neutralen Etwas.
Wenn ich im Folgenden gegenwärtige Diskussionen aufgreife, dann nicht, um sie hier zu lösen. Mit Hilfe einiger nur grob skizzierter Positionen möchte ich lediglich andeuten, daß die Fragestellungen, mit denen Ziehen gerungen hat, auch heute noch nicht gelöst sind. Zudem ist dieser Abschnitt ein persönliches Bekenntnis, zeigt er doch, inwieweit Ziehen für mich in diesen Kontroversen anregende und zum Teil auch kritische Elemente bereithält.
In der heutigen Geist-Hirn-Debatte kommt man immer wieder auf die Korrelation zwischen dem Gehirn und seinen psychischen Empfindungen zu sprechen, und nicht wenige Philosophen, wie z. B. die Amerikaner John Searle und Thomas Nagel kommen über die Frage "Wie es ist, eine Fledermaus zu sein" zur "Wiederentdeckung des Geistes" (so die Titel zweier Werke dieser Autoren). Eine wesentliche Stoßrichtung ihrer Kritik richtet sich gegen die sogenannte harte KI-Forschung, die unter der Maxime angetreten ist, menschliche Intelligenz mit Hilfe des Computers künstlich nachzubauen. Diese beiden Autoren vertreten die Ansicht, daß der Mensch und seine Intelligenz nicht adäquat als Maschine deutbar und daher nachkonstruierbar seien.
Thomas Nagel zeigt an Hand der Frage, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, daß wir uns keine Vorstellung davon machen können, wie es für eine Fledermaus ist, eben jene Fledermaus zu sein. Das Konzept des Physikalismus, Mentales physikalisch zu erklären, hält er daher für gescheitert. [...] Nagel stellt die Frage, ob es überhaupt einen Sinn macht, nach dem objektiven Charakter von Erlebnissen zu fragen, anstatt zu fragen, wie sind meine Erlebnisse wirklich - und nicht nur, wie erscheinen sie mir. Er sucht einen Lösungsweg im Bemühen, ein objektiveres Verständnis des Mentalen zu erlangen. in seinen Überlegungen geht es ihm nicht darum, aufzuweisen, "daß das objektive Bild unvollständig ist, sondern daß es seinem Wesen nach nur eine Teilansicht bieten kann" (Nagel 1991, 125) Der Ausweg idealistischer Traditionen scheint ihm aber auch verwehrt, da auch die objektive Realität seiner Meinung nach nicht einfach hinweganalysiert werden kann:
"Eine Welt kann nicht sowohl irreduzible Standpunkte als auch eine irreduzible objektive Realität enthalten - eines von beiden muß das sein, was wirklich existiert, und das andere muß sich irgendwie darauf zurückführen lassen oder davon abhängig sein. Dies ist ein kaum abzuweisender Gedanke. Ihn zu bestreiten hieße, in einem gewissen Sinne zu bestreiten, daß es eine einzige Welt gibt." (Nagel 1991, 126)
John Searle kritisiert die bei der Untersuchung des Geistes bestimmenden Traditionen - sowohl "materialistische" als auch "dualistische" -, mit der Hoffnung, daß man zu Wiederentdeckung des Geistes kommt. Dabei läßt er - soweit ich sehe - offen, was Geist ist, setzt ihn aber in enge Beziehung zum "Bewußtsein". Er geht davon aus, "daß sich unter den physikalischen Phänomenen der Welt auch biologische Phänomene, wie z.B. innere qualitative Bewußtseinszustände ... befinden" (Searle 1996, 8). Dabei ist für ihn ein entscheidender Punkt die "ontologische Reduktion", die wir in naturwissenschaftlichen Konzeptionen durchführen, und die für das Bewußtsein so nicht funktioniert. Beispielsweise führen wir Wärme zurück auf etwas anderes - Molekülbewegungen -, was uns bei Schmerzen nicht gelingt. Warum das so ist, beantwortet Searle wie folgt:
"Was uns an Wärme interessiert, das sind nicht die subjektiven Erscheinungen, sondern die zugrundeliegenden physikalischen Ursachen. Sobald uns eine kausale Reduktion zur Verfügung steht, definieren wir den Begriff einfach neu, um eine ontologische Reduktion machen zu können. Sobald alle Tatsachen über Wärme bekant sind - Tatsachen über Molekülbewegungen, über den Aufprall auf Enden von Nervenfasern, subjektive Gefühle usw. - kommt bei der Zurückführung von Wärme auf Molekülbewegungen keine einzige neue Tatsache ins Spiel. Die Zurückführung ist einfach eine triviale Konsequenz der Neudefinition. Es ist ja nicht so, daß wir zunächst alle Tatsachen entdecken und dann noch eine neue Tatsache hinzuentdecken - die Tatsache, daß Wärme sich zurückführen läßt. Vielmehr geben wir einfach eine neue Definition für Wärme, aus der dann die Zurückführung folgt. Doch diese Neudefinition eliminiert nicht die subjektiven Wärme- (bzw. Farb-. usw.) Erlebnisse aus der Welt - und war auch gar nicht so gemeint. Die gibt es genau so wie immer." (Searle 1996, 141)
Daß es durchaus vernünftig ist, solche Neudefinitionen zu akzeptieren, begründet Searle mit der Absicht, die Wirklichkeit besser verstehen und beeinflussen zu können (vgl. Searle 1996 142). Searle fragt nun, ob man nicht auch das Bewußtsein mit Rückgriff auf neurophysiologische Vorgänge analog der Wärme neu definieren können. Aber das Problem, daß sich hier stellt, ist folgendes:
"Doch mit der Zurückführung vom Schmerz auf seine physikalische Wirklichkeit [durch die Definition als Muster neuronaler Aktivität -AH] wird natürlich das Subjektive Schmerzerlebnis immer noch nicht zurückgeführt, wie ja auch bei der Zurückführung von Wärme das subjektive Wärmeerlebnis nicht auf irgend etwas zurückgeführt wird. Zur Pointe der Zurückführung gehört es, die subjektiven Erlebnisse abzutrennen und sie aus der Definition der wirklichen Phänomene auszuschließen; letztere werden dann mit Rückgriff auf diejenigen Merkmale definiert, die uns am meisten interessieren. Doch wenn die Phänomene, die uns am meisten interessieren, gerade die subjektiven Erlebnisse selbst sind, dann läßt sich da nichts abtrennen. Zur Pointe der Zurückführung von Wärme gehört es, zwischen der subjektiven Erscheinung einerseits und der zugrundeliegenden physischen Realität andererseits zu unterscheiden. Ja, es ist sogar ein allgemeines Merkmal derartiger Reduktionen, daß das Phänomen mit Rückgriff auf die ‚Wirklichkeit' und nicht mit Rückgriff auf die 'Erscheinung' definiert wird. Doch eine solche Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit können wir im Hinblick auf das Bewußtsein nicht machen, denn das Bewußtsein besteht in den Erscheinungen selbst. Wo es um die Erscheinung geht, können wir keine Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit machen, weil die Erscheinung die Wirklichkeit ist." (Searle 1996, 142 f)
Hier ist nicht der Ort, um auf die vielen anregenden Gedanken Searles einzugehen, und auch diese Darstellung ist alles andere als umfassend. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß die Diskussionen um den angemessenen Umgang mit dem, was uns subjektiv scheint, sehr aktuell ist. Denn die Frage nach dem Verständnis des Subjektiven ist nur die Kehrseite der Frage nach den Objektiven. Und das Bild, welches wir vom Menschen entwerfen, um daraus Regeln und Normen für das aufzustellen, was mit dem Menschen (und der Welt) zu tun erlaubt werden soll und was nicht, hängt von diesen "Objektivationen" ab.
Eng verbunden damit ist die Frage des "naturwissenschaftlichen" Realismus. Dabei geht es um die Frage, ob uns die Wissenschaften zuverlässig über jene Dinge Auskunft geben können, die wir nicht direkt sehen, wie z.B. Elektronen, Photonen, Quarks, Gene, Viren oder das "Über-Ich". Von ihrer Beantwortung hängt unsere allgemeine Einstellung gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen ab. Wo liegen die Grenzen dessen , was wissenschaftlich sagbar ist? Bleibt letztlich nichts mehr dem Zugriff der Wissenschaften verborgen? Bartelborth (1997) gibt in seinem Aufsatz eine gute zusammenfassende Übersicht über heutige kontroverse Positionen.
In diesen hier nur grob aufgezeigten Diskussionen können Ziehens Analysen über das Vorgehen im Erkenntnisprozeß, durch die Aufdeckung der vorgenommenen Reduktionen manches Argument neu beleuchten. Die Kluft zwischen subjektiven und objektiven Betrachtungsweisen kann dadurch verringert werden, daß wir etwas über ihre Entstehung erfahren. Vielleicht gelingt es auf diesem Hintergund das Problem des naturwissenschaftlichen Forschens mit dem Phänomen des Geistigen einen Schritt weiter zu führen. Ansätze dazu sehe ich in den Beiträgen von Autoren, die dem Konstruktivismus zugerechnet werden.
Der Radikale Konstruktivismus, um diese Klassifikation für einen an sich recht heterogenen Kreis von Denkern und Forschern unterschiedlicher Fachrichtungen zu gebrauchen, behauptet "Realität" als ein "Konstrukt". Siegfried J: Schmidt referiert in seinem Aufsatz "Radikaler Konstruktivismus" die auf eine Anregung von Silvio Ceccato (geb. 1914) zurückgehende Grundmaxime so:
"Jeder unbedingte Anfang geht aus unseren Tätigkeiten hervor, alles verdankt sich unseren Unterscheidungen und Benennungen (...). Diese Maxime Ceccatos, in allem ein Produkt zu sehen, das Material und die Operationen anzugeben und die Hervorbringung des Produkts explizit nachzuvollziehen, umreißt einen der m. E. zentralen Theoriebestandteile radikalkonstruktivistischen Denkens, der dieses Denken an die instrumentalistische und operationalistische Tradition (Dingler, Bridgman) anschließt, Damit stehen radikale Konstruktivisten aber vor der Aufgabe, diese Konstruktivitätsbehauptung exemplarisch empirisch einzulösen. ... In Sinne des Postulates, alles vermeintlich Unmittelbare und Gegebene aus der Alltagssprache und der Praxis des Miteinanderlebens systematisch herzuleiten, wird der lebensweltliche Prozeß als a priori postuliert, aus dem je wissenschaftliche Tätigkeit aufbauen und das sie nicht hintergehen kann." (Schmidt 1993, 343 f)
Auf seiner Suche nach einem gesamten Weltbild, in dem die Ergebnisse der verschiedenen Wissenschaften ihren Platz haben, ging Ziehen aus vom Menschen. Seine Erfahrungen, Vorstellungen und Gedanken bilden als das Gegebene das Ausgangsmaterial, in welches die Wissenschaften versuchen, Ordnung zu bringen. Die Naturwissenschaften müssen dazu reduzieren, und daher gebührt ihnen nicht das letzte Wort. Mögen sie auch den Menschen als Maschine beschreiben, so zeigt die Untersuchung ihrer Vorgehensweise, wo die Grenzen dieser Betrachtung sind.
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Die Internet-Fassung wurde leicht gekürzt. Das Verzeichnis der Literatur finden Sie in der Printausgabe. Auf Wunsch kann ich es Ihnen auch zusenden, wenn Sie mir schreiben
Theodor Ziehen psychologische Erkenntnistheorie
Aus: L'homme machine? Anthropologie im Umbruch. Ein interdisziplinäres Symposion. Herausgegeben von Harald Schwaetzer und Henrieke Stahl-Schwaetzer. Hildesheim / Zürich / New York 1998, 49-67