leicht gekürzt aus: "Geschichte, Entwicklung, Offenbarung. Gideons Spickers Geschichtsphilosophie". Herausgegeben von Harald Schwaetzer und Christian Schweizer. Regensburg 2005. 41-74.
Ein Hund, der stirbt,
und der weiß, das er stirbt, wie ein Hund
und der sagen kann, dass er weiß, dass er stirbt, wie ein Hund
ist ein Mensch.
Erich Fried
Anlass für die Schrift „Mensch und Tier“ von Gideon Spicker war die Abhandlung seines Lehrers Carl von Prantl mit dem Titel „Reformgedanken zur Logik“ (PRL). Spicker antwortet mit „Mensch und Tier“ (MT) und geht in diesem Werk auch auf Darwins „Die Abstammung des Menschen“ kritisch ein. In meinem Text möchte ich deutlich machen, dass es Spicker nicht um eine dialogische Diskussion mit Prantls oder Darwins Position oder deren Anliegen ging, sondern daß er hier mit seinem Leher „abrechnet“. Auch die Kritik an Darwin soll hier in erster Linie den Lehrer treffen, wiewohl es bei Spicker auch andere Gründe gibt, den Darwinismus abzulehnen.
Ich möchte zunächst anhand einiger Bemerkungen Spickers in seiner Selbstbiografie die Abrechnungsthese darlegen (1). Anschließend werde ich das Umfeld Prantlscher Philosophie skizzieren (2) bevor ich einige Grundthesen aus Prantls „Reformgedanken“ vorgestelle (3). In einem vierten Schritt werde ich näher auf Spickers Kritik an Prantl eingehen (4). Dazu gehört eine knappe Fassung der Argumentation Darwins (4.1), die dann von Spicker kritisiert wird (4.2). Spickers Entwicklungsgedanke beruht auf dem Konzept der „Zielstrebigkeit“ (4.3), welches er den Arbeiten des Biologen von Baer verdankt. Damit lassen sich die wesentlichen Kritikpunkte Spickers herausarbeiten (4.4-4.9). Spicker geht nicht ein auf die die Logik betreffenden Reformideen Prantls, die ich in einem 5. Abschnitt vorstellen möchte. Prantls Überlegungen zum Zweckbegriff (6) sollen noch einmal verdeutlichen, daß bei ihm der Mensch allein es ist, der Zwecke setzten kann. Zusammenfassend (7) bleibt zu bemerken, daß die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier, von Geist und Materie als Aufgabe immer noch erhalten bleibt. [p. 42]
Fünf Jahre verbrachte Spicker in München, von 1864 bis 1869. Er bezeichnete sie als die wichtigste Periode in seinem Leben, da er sich erst hier seines wahren Berufes bewußt geworden sei (vgl. KL³ 124). Die beiden Persönlichkeiten, die ihn am tiefsten geprägt haben, waren Ignaz von Döllinger, das spätere Haupt der Altkatholiken, und Carl von Prantl (vgl. KL³ 125). Das eindrücklichste Erlebnis war für Spicker eine Erschütterung, die ihm jedes Vertrauen zur Spekulation und zur objektiven Wahrheit jeglicher Denkrichtung raubte1. Er fasste seine Erinnerung daran in folgende Worte:
“Die Radikalkur, der ich mich bei Prantl unterzog, machte mich zum vollendeten Skeptiker. In meinem Herzen gähnte eine fürchterliche Öde.” (KL³ 134)
An einer anderen Stelle urteilte Spicker im Rückblick über seinen Lehrer Prantl:
“Prantl war ein ausgezeichneter Gelehrter, aber kein
spekulativer Kopf; die Philosophie war ihm nur soweit zugänglich,
als sie mit dem Verstande erfaßt werden konnte. Was aber
irgendwie nach Religion, Phantasie, Gefühl schmeckte, war ihm
innerlichst zuwider.” (KL³ 136)
“Wissenschaft
und sittliches Pflichtbewußtsein, Verstand und Gewissen waren
die beiden Hauptkräfte in der Seele dieses großen
Gelehrten. Der dritte, innige Gemeinschaft bildende, herzerhebende
Faktor war nur schwach vertreten oder größtenteils nicht
vorhanden.” (KL³ 137)
Wie sah nun Spicker die Philosophie seines Lehrers?
“Daß aber diese Philosophie zu einem rein negativen Resultat führen würde, habe ich während der Vorlesungen bei Prantl nicht bemerkt. Auffallend war mir freilich, daß er für Plato wenig oder gar kein Gefühl hatte, daß er das Halbe und Schwankende bei Schleiermacher mit bitterem Hohn behandelte, Schelling und Hegel für Neuplatoniker erklärte, womit er etwas sehr Verächtliches bezeichnen wollte” (KL³ 135)
Um das Ziel seiner Kritik zu erreichen, mußte Spicker Prantls Gedankengänge nach eigenem Bekunden erst zu einem Prantlschen System unter Zuhilfenahme seines Gedächtnisses konstruieren, um dann anschließend dieses so gewonnene System auf Grund sich jetzt ergebender Folgerungen zu widerlegen. Eine nachträgliche Rechtferigung zu diesem Vorgehen sah Spicker darin, daß weder Huber, Prantls Gegenspieler in München, dem Spicker seine Schrift zuerst zu lesen gegeben hatte, noch Prantl selbst daran etwas auszusetzten hatten (vgl. dazu KL³ 141).
Als Aufgabe seiner Philosophie sah Prantl nach Spickers Zeugnis „die logische Vermittlung des äußersten Gegensatzpaares von Geist und Materie (KL³ 136). Und wenn Spicker betont, daß darin die Rede von einem persönlichen Gott oder [p. 43] der individuellen Unsterblichkeit nicht vorkam, so ist in diesem Befund sicher einer der wesentliche Gründe zu sehen, die ihn später zu seiner so ablehnenden Haltung geführt haben2; Spickers Anliegen war eine spekulative Philosophie, die über einen bloßen Emprirismus hinausging3.
Das Werk „Mensch und Thier“ bildet die dritte und damit abschließende Arbeit der Freiburger Trilogie, wenn man in der Periodisierung Schwaetzer (WW2) folgt. In diesem Dreischritt bilden die Werke NP und KHB nicht nur die Auseinandersetzung mit den jeweis dort verhandelten Autoren, sondern indirkt auch schon eine Abwendung von Prantl, hatte dieser doch Spicker auf die Bedeutung Kants und Langes hingewiesen4.
Die Methode mit der Spicker seine Kritik entwickelte, war fundiert in der grundlegenden Rolle der Logik. Er nahm die Gedanken seines Diskutanten auf, dachte ihre Konseuenzen weiter und deckte interne logische Widersprüche auf.5
Daß Spicker sich seine harsche Kritik an seinem Lehrer sehr zu Herzen genommen hat, mag das folgende Zitat aus seiner Selbstbiografie belegen:
“Obwohl ich noch gegenwärtig der Überzeugung bin, theoretisch gegen ihn im Recht zu sein, so verfolgt mich doch das moralische Unrecht bis auf diese Stunde. Einem Mann, dem man so viel Anregung und Liebenswürdigkeiten zu verdanken hat, beweisen zu wollen, daß sein Standpunkt letzten Endes auf einen verkappten Materialismus hinauslaufe, war für einen feurigen Verehrer, wie ich gewesen, undankbar und pietätlos.” (KL³ 140)
Diese Hinweise mögen zunächst genügen, um die These einer Abrechnung mit seinem Lehrer zu begründen. Im weiteren Verlauf möchte ich einige Argumente dieser Auseinandersetzung exeplarisch vorstellen. Zunächst aber einige Anmerkungen zum Kontext, in dem Prantl Philosophie anzusiedeln ist.
Die Ausführungen Prantls zu Logik und deren Thematisierung unter der Bezeichnung „Reformgedanken“ stellt seine Ausführungen in eine zeitgenössische Diskussion, deren Aufarbeitung jetzt erst langsam unter dem Motto „Die Logische [p 44] Frage“ begonnen hat6. Die von Prantl geäußerte Grundthese von er Einheit von Sprache und Denken, die schon auf von Humboldt und Herder zurückweist, wurde unter anderem von Max Müller weiter geführt in die Entwicklungsline der beginnenden Sprachkritik.
Wesentlich bestimmt wurde diese Situation der Logik durch Kants „Kritik der reinen Vernunft“, in der Kant zwischen elementarer Logik auf der einen und transzendentaler Logik auf der anderen Seite unterscheidet (KrV A 50-70). In der weiteren Entwicklung bis zu Hegels Tod standen sich im Wesentlichen zwei Auffassungen von Logik gegenüber, die von Kant zwar als unterschiedliche, aber sich dennoch ergänzende Bereiche konzipiert waren.
So wie es Trendelenburg sah, bewerteten viele die Feststellung, daß die formale Logik nicht ausreiche das Erkennen zu beschreiben, als indirekten Beweis für die Behauptung, daß die spekulative Dialektik - und damit war Hegel gemeint - dazu in der Lage sei. Trendelenburgs nahm sich daher vor, diese Dialektik als untauglich zu erweisen. Wenn ihm dies gelang, war zwar die alte Logik noch an keinem ihrer defizitäten Punkte - die auch Trendelenburg bereitwillig einräumte - verbessert, aber die Dialektik war als mögliche Alternative bloßgestellt und verhindert. Allein schon aus dieser Überlegungen erhellt die Notwendigkeit, die Aufgabe und den Status der formalen Logik - auch und gerade im Rahmen einer Theorie der Erkenntnis - neu zu formulieren.
Peckhaus (1997) sieht in der von Trendelenburg ausgelösten Diskussion eine Reformdiskussion, in der es um die Auseinandersetzung mit der aristotelisch-scholaischen Syllogistik ging. Zwei Bereiche der Logik waren besonders von den Reformbemühungen betroffen: zum einen die Grundlegung der Logik, zum anderen der Bereich der logischen Methoden. In den Fokus des Interesses geriet das Verhältnis zwischen dem, was im Denken geschieht, auf der einen Seite und dem, was dabei geschehen soll, auf der anderen.
Der Hegelschen Philosophie wurde, wie Hansen (2000) formuliert, vorgeworfen:
„[...] daß sie die Naturwissenschaften zur Magd ihrer Konstruktionen degradiere, wo es doch umgekehrt ihre Aufgabe sei, unter Berücksichtigung der Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung über die in ihr zur Anwendung [p. 45] gelangenden Methoden grundlegende Überlegungen anzustellen, und in diesem Sinne Wissenschaftstheorie zu werde.“ (Hansen 2000, 63)
Schmidt berichtet, er habe den Eindruck gewonnen, daß Trendelenburg mit seiner Kritik an der Hegelschen Logik einen Nerv getroffen habe und die Anhänger Hegels eine klare und überzeugende Kritik vermissen ließen.7
Trendelenburg formulierte die Aufgabe so:
„Die Logik muß insofern zu einer Metaphysik der Wirklichen Wissenschaften werden, als sie die realen Prinzipien derselben begreifen muß, um die That des Denkens innerhalb ihres Gebietes zu verstehen und dadurch erst zur wahren Logik werden.“ (Trendelenburg 1843, 50)
Mit seiner „sprachlichen Logik“ sucht Prantl den Ausgleich zwischen einer abtrakt-formalen Logik, wie sie auf der einen Seite durch die von Hegel erarbeitete dialektische Methode verkörpert ist und einem subjektiv-voraussetzungslosem Denken, wie es durch Kants transzendetaler Logik bezeichnet ist, auf der anderen Seite.8
Ich möchte in meinem Urteil noch einen Schritt weiter gehen und Prantls Ausführungen in die Nähe der beginnenen Sprachkritik rücken. Dies scheint mir gerechtfertigt durch die in Zitaten belegbare gegenseitige Wahrnehmung zwischen Friedrich Max Müller 9 und Carl von Prantl.10
Schmidt (1971) beschreibt das Selbstverständnis der zentralen Autoren dieser Sprachkritik als bewußt im Kontext der Kantischen Frage angesiedelt, da sie diese Frage nach der Bedingung der Möglichkeit zuverlässiger Erkenntnis als Frage nach der Funktion der Sprache im Erkenntnisprozess stellen. Die drei wichtigsten Vertreter der Sprachphilosophie des 19. Jahrhunderts: Gustav Gerber, Friedrich Max [p. 46] Müller und Georg Runze stellten ihre Abreit bewußt in den Zusammenhang Kantischen Philosophierens. Gerber verstand seine Untersuchungen dezidiert in Weiterführung und Vollendung der „Kritik der reinen Vernunft“ als Kritik der Sprache.11 In philosophiegeschichtlicher Betrachtung sieht Schmidt hier den Versuch,
„[...] den offiziellen Strang der modernen Philosophie von Descartes bis Hegel mit seinen Nebensträngen zusammenzuführen, in denen von Bacon bis Humboldt die Sprache als das eigentlich problematische, stets aber verdeckte oder mißverstandene Thema der Erkenntnistheorie betrachtet wurde.“ (Schmidt 1971, 10)
Welche Auswirkungen die Untersuchung der Sprache und des Zusammenhangs von Sprache und Denken auf Prantls „Reformgedanken“ hatte, möchte ich an folgendem Zitat belegen:
„Es ist mir eine kaum verständliche Unsitte, die Definition bei der Lehre vom Begriffe zu besprechen, und der Eindruck solcher Ungeheuerlichkeit erhöht sich erklärlicher Weise bei der Gemeiniglich beliebten Vorstellung des Begriffs; denn wenn uns bereits der erste Abschnitt der Logik die Theorie und die Praxis definitorischer Urtheile (der denkbar vollkommensten Urtheilsform) dazulegen im Stande ist, so dürfte kaum abzusehen sein, zu welchem Zweck noch zwei oder drei weitere Abschnitte nachfolgen sollen. Vielleicht mag als Beispiel genügen, wenn ich sage, dass der Begriff 'Mensch' einfach 'Meinesgleichen' ist, während die Definition desselben in der einen oder anderen der allbekannten Formen ausgesprochen werden muss; zu dem erwähnten Begriff 'Mensch' gelangen auch die Kinder, sowie sie in analoger Weise zu einem Begriffe 'Löffel' oder 'Strumpf' u.s.f. gelangen, d.h. sie gebrauchen die betreffenden Worte mit Nothwendigkeit und Allgemeinheit bei dem betreffenden Vorstellungs-Umkreise, aber von hier aus ist noch ein sehr weiter Weg zur Definition zu druchschreiten.“ (PRL 211)
Nach Prantl ist die Logik grundsätzlich als Wissenschaftslehre aufzufassen, daß heißt: als Erkenntnislehre, und verweist damit auf einen Wissenstrieb des Menschen als anthropologische Grundkonstante. Auf Grund dieses gegenseitigen Verweises müssen prinzipielle Anschauungen über das Wesen des Menschen auch für die Wissenschaftslehre von größter Bedeutung sein.
In dieser Beziehung nun gesteht Prantl, sich nur den Gegnern des Dualismus anschließen zu können, da ihm dieser Dualismus „Überhaupt als eine Verneinung der Philosophie erscheint“ (PRL 162). Damit ergibt sich für Prantl, daß „wahre Philo- [p. 47] sophie“ den Anforderungen eines Monismus gerecht werden muß. Der Grund dafür liegt für Prantl in folgender Überzeugung:
Nach monistischer Grundanschauung muß eine Wesens-Einheit (d.h. eine unitas naturae und nicht eine unitas compositionis) der Gegensätze „Natürliches“ und „Geistiges“ als Ausgang genommen werden. Das heißt aber auch, daß die menschliche Seele nicht als ein substanzielles Wesen aufgefaßt wird, sondern „als eine immanente Kraft des wesenseinheitlichen unzerstückelten Menschen-Wesen“ (ebd.). Weiterhin kann daher auch die „gedankenhaltige Sprache des Menschen“ nicht als etwas Zusammengesetztes aus einem „physiologisch-leiblichen Laut und einem begrifflich Geistigen“ angesehen werden. Da diese Auffassung des „Denkens als eine von der Sprache unzertrennliche Kraftäußerung“ erheblichen Einfluss auf die Wissenschaftslehre hat, will Prantl diesen Zusammenhang näher erörtern.
Ist Sprache eine untrennbare Wesens-Einheit von Gedanke und Laut und gibt es außerhalb des Sprechens kein „reines“ Denken, müssen wir zunächst einmal einen „Unterschied“ zwischen Mensch und Tier feststellen, der, ohne einen Dualismus annehmen zu müssen, formuliert werden kann.
"Es muss der Versuch gewagt werden, den großen Gedanken der 'Entwicklung' [...] aufrecht zu enthalten und da, wo der Dualismus eine Kluft oder einen Sprung statuirt, einen Uebergang und eine Steigerung aufzuzeigen, durch welche gewisse gleichfalls 'Abstände' sich ergeben, jedoch das Wunder eines plötzlichen Eingriffes, an welches der Dualismus stets appelliren muss, ausgeschlossen bleibt." (PRL 167f)
Prantl weist darauf hin, daß es bereits beim Tier etwas gibt - lautliche Kundgebungen, Signale - , das in sehr hoher Steigerung beim Menschen Sprache heißt; auch die Tiere haben ein Wollen, obgleich gewiß ist, „dass der Wille des Tieres durch sein Wesen determiniert und bedingt ist“. (PRL 169)
Beabsichtigung oder Zweckverfolgung, ja sogar schon eine einfache Reflexbewegung sind auf das individuelle Wohl des jeweiligen Wesens gerichtet (vgl. PRL 170). Wenn wir bei Tieren von Sprache, Wollen, Reue, Denken reden, tun wir das immer mit dem Gefühl, in einer Metapher zu sprechen. Gleichzeitig gibt es zu viele Anzeichen, um den Tieren solche Funktionen abzusprechen. Es ist also schon ein Sprachproblem, die Begriffe so zu wählen, das auf der einen Seite der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht verloren geht und andererseits zugleich die Steigerungsfähigkeit von einer niedersten Stufe zu einer höchsten einbegriffen ist.
Wenn Prantl den Satz als zwar zugespitzt aber dennoch zulässig zitiert: "Die Tiere denken ohne Logik, aber darum nicht unlogisch", (PRL 172) meint er damit folgendes: Tiere können Kausalzusammenhänge erfassen und auch Kausalitätsschlüsse ziehen in dem Sinne, dass sie eine Wirkung erwarten oder eine Ursache suchen (z.B. [p. 48] woher ein geworfener Stein kommt). Damit verfügen sie aber noch nicht über die Möglichkeiten der logischen Folge oder des logischen Grundes, also über Logik.
Nach diesen Überlegungen sieht Prantl sich vor der Frage, wie man nun den Unterschied zwischen Mensch und Tier ohne eine dualistische Annahme nur aus der zuvor beschriebenen Steigerung "präzis formulieren" (PRL 172) kann.
„Schlicht und tief möge der Satz an die Spitze gestellt sein: 'Der Mensch hat Zeit-Sinn'. Auch den Materialismus möchte ich um eben dieses einzige Zugeständnis bitten, damit ich gegen denselben ebenso sehr eine feste Basis gewänne als ich andererseits der supranaturalistischen Beihilfe des Dualismus nicht bedarf.“ (PRL 172)
Der Zeitsinn - im Gegensatz zu den Raumsinnen, die Prantl als Zusammenfassung aller übrigen Sinne so bezeichnet - kommt nur dem Menschen zu und wird von Prantl gedacht als die Gehirntätigkeit des Menschen, die in der Lage ist, „auch die reine Succession als solche und die reine Intensität des Geschehens überhaupt zu erfassen“ (PRL 173). Sobald dies zugestand, ergibt sich alles weitere in ungezwungener Entwicklung.
Der Zeit-Sinn mit der Möglichkeit, „den Faden der reinen Succession als solchen“ fortzuspinnen, führt beim Menschen zum so genannten Kontinuitätssinn, der die Grundfähigkeiten von Selbstbewußtsein, Ich-Bewußtsein ermöglicht. Diese sind die Grundlage, um mit Hilfe der Fähigkeit zur reinen Sukzession über die Gegenwart hinaus zu greifen und aus dem bereits beim Tier vorhandenen Gedächtnis durch Weiterentwicklung zur spontanen Rückerinnerung sich zu steigern. Auch daß die menschliche Sprache sich entwickelt, wird durch den Kontinuitätssinn ermöglicht. Prantl sieht im Kontinuitätssinn den wesentlichen Punkt für die geistige Entwicklung des Menschen. Der Kontinuitätssinn ist grundlegend für die Sprachbildung. Die Sprachbildung ist der „Träger aller idealen Impulse der Menschheit“ (PRL 183). Zu diesen idealen Impulsen, über die die Tiere nicht verfügen, zählen der Familientrieb, der sittliche, Rechts- und Staats-Trieb, der Religions-Trieb und der Wissens-Trieb. Und alles ruht letztlich auf dem Postulat des Zeit-Sinns (vgl. PRL 174)
"Und während wir die dualistische Anschauung, daß der Mensch aus zwei verschiedenen und trennbaren Wesen zusammengesetzt sei, grundsätzlich ablehnen, bleibt uns dennoch sehr wohl verständlich, daß eine Heterogenität zwischen sensual-physiologischen Impulsen und den idealen Impulsen besteht; die selben sind genau ebenso heterogen als Raum und Zeit es sind, und sowie wir trotz dieser Heterogenität es gewiss nicht unternehmen, das Universum dualistisch in Raum und Zeit zu spalten, so werden wir auch jene Wesenheit nicht zerstücken, welche der mit Raum-Sinnen und mit Zeit-Sinn ausgerüstete Mensch ist." (PRL 174f)
Damit gehe, wie Prantl glaubt, seine Position über den Materialismus hinaus (ideale Impulse) und bewahre dennoch vor jedem Supranaturalismus. [p. 49]
"Gewohnheit und Uebung führt auch bei der Verflechtung des Zeitsinnes mit den Raumsinnen (ebenso wie beim Erlernen des Gehens, des Sehens, des Lesens usw.) zu gesteigerter Entwicklung, und hiermit ist es auf dieser unserer Basis speculativ erklärbar und verständlich, dass der Mensch eine 'Geschichte' hat." (PRL 176)
Selbständigkeit und spontane Rückerinnerung setzten den Menschen in die Lage, sich mit einem äußeren Gegenstand zu beschäftigen oder aber ihn absichtlich nicht zu beachten. Mit Hilfe des Selbstbewußtseins gewinnt der Mensch die Befähigung, die äußeren Perzeptionen in "Sinneswahrnehmungen" und in "Gefühle" zu zerlegen. Und wenn er die Gefühle oder das Subjektive mit Hilfe des Kontinuitätssinnes fortspinnt, kann er es selbst auch wieder gegenständlich erfassen.
Daher gibt "[...] es für den Menschen zahllose Gegenstände der denkenden Auffassung [...], welche unmittelbar weder konkrete äußere Dinge noch sinnenerregte Eigenschaften derselben sind, sondern mittelbar aus solchem in der Denkwerkstätte als Erzeugnisse und Gegenstände hervorgegangen waren." (PRL 177)
Mit diesen Überlegungen glaubt Prantl die untrennbare Wesens-Einheit des Denkens und Sprechens soweit motiviert zu haben, daß ihm die Logik unter diesem Gesichtspunkt als reformbedürftig erscheint und er definiert die artikulierte Sprache als „Verwirklichung der Denk-Kraft im natürlichen Laute“. Im Bild gesagt: Der Gedanke wird mit Hilfe der natürlichen Laute zur Sprache wie der Kohlenstoff mit Hilfe der Kristallisation zum Diamanten.
D.h aber „ein Diamant ist keine Zusammensetzungs-Einheit aus Kohlenstoff und Krystallform, sondern eine Wesens-Einheit von Kohlenstoff in Krystallform.“ und ebenso „ist die Sprache keine Zusammensetzungs-Einheit aus Gedanken und natürlichen Lauten, sondern eine Wesens-Einheit des Denkens mit natürlichen Lauten“. (vgl. PRL 180f.)
Im weiteren Verlauf seiner Arbeit diskutiert Prantl eine Reihe von Theorien über die Sprachentstehung vom Gebrauch von Verben und der Weiterentwicklung zu Sätzen usw. Für den von mir zu betrachtenden Zusammenhang lasse ich diese Passagen jetzt hier erst einmal unberücksichtigt, zumal auch Spicker sich in seiner Kritik an diesem Werk auf das bisher knapp Referierte beschränkt.
Spicker macht gleich am Beginn seiner Kritik deutlich, daß es sich bei Prantls Überlegungen nicht bloß um Reformgedanken zur Logik handelt, sondern um solche zur Philosophie überhaupt. Er begründet dies damit, daß die Philosophie letztlich ein System sei, was für ihn in der menschlichen Vernunft liegt. [p. 50]
Es ist „ein Vorzug der Philosophie, dass man keinen allgemeinen Satz darin aussprechen kann, ohne das ganze System damit zu verrathen. Der Grund hiervon liegt in der menschlichen Vernunft, die von Haus aus auf Systematik, d.h. auf principielle Begründung und consequente Durchführung angelegt ist.“ (MT 195)
Im wesentlichen wirft Spicker seinem Lehrer vor, daß dieser nicht, wie er betont, eine stabile Basis gegen den Materialismus errichtet hat, sondern daß sein ganzer Ansatz durchweg materialistisch ist. Des weiteren gelinge Prantl nicht, seine Position als Monismus auszuweisen, sondern sie führe konsequent in den Dualismus. Letztendlich ist sie also sowohl materialistisch als auch dualistisch, und das heißt widersprüchlich.
Wenn Prantl in seinem Werk darauf hinweist, daß die verschiedensten Fähigkeiten des Menschen schon bei den Tieren zu finden sind, nur eben in viel einfacherer Form, so folgt er darin im wesentlichen dem Urheber des „großen Gedankens der Entwicklung“, Charles Darwin. Dieser komme in seinem zweiten Hauptwerk „Über die Abstammung des Menschen“ von 1871 auf die verschiedenen Fähigkeiten des Menschen zu sprechen. Und dies will Spicker kritisieren, um daran zu zeigen, auf welchem schwachen Fundament Prantl steht.
Im Folgenden möchte ich daher zunächst einige Gedanken aus Darwins Werk vorstellen.
Im zweiten und dritten Kapitel seines Werke „Über die Abstammung des Menschen“ befasst sich Darwin12, wie deren gemeinsame Überschrift besagt, mit der „Vergleichung der Geisteskräfte des Menschen mit denen der niederen Thiere“. Er geht davon aus, dass der Unterschied der geistigen Kräfte zwischen dem höchsten Affen und dem niedrigsten Wilden zwar ungeheuer ist, aber der Abstand zwischen einem der niedrigsten Fische und den höheren Affen ist wohl noch größer, als der zwischen Affen und Menschen. Dennoch wird diese Lücke durch viele Abstufungen ausgefüllt. Menschen und Tiere verfügen - überlegt Darwin weiter - über die gleichen Sinne, aus diesem Grund müssen auch die daraus resultierenden Empfindungen die gleichen sein. Des Weiteren bestehen auch zwischen den Instinkten (z.B. Selbsterhaltungstrieb, Liebe der Mutter zum Kind, Geschlechtstrieb) Ähnlichkeiten, wobei allerings dem Menschen weniger Instinkte zur Verfügung stehen [p. 51] (z.B. die Vermeidung giftiger Nahrung). Tiere verfügen ebenso wie die Menschen über Gefühle (z.B. Mut, Furcht, Freude). Diese Empfindungen variieren selbst innerhalb einer Art, können aber, wie beim Menschen, auch vererbt werden. (vgl. Darwin 1871, 28-35) Ein so starker Nachahmungstrieb wie er beim Menschen zu finden ist, tritt der erst wieder bei den Affen auf. Natürlich verfügen auch andere Tiere über diesen Trieb (z.B. Wölfe, die bei Hunden aufwachsen und daraufhin die gleichen Verhaltensmuster zeigen wie ihre Hundegeschwister), aber eben viel schwächer. Außerdem werden bei den meisten Arten die Nachkommen im Vertrauen auf das Prinzip der Nachahmung erzogen. (36f) Die höheren Tiere verfügen sowohl über ein Gedächtnis, als auch über eingewisses Maß an Aufmerksamkeit. Und wenn sie in der Lage waren diese Fähigkeiten zu entwickeln, dann ist es denkbar, daß sich daraus auch kompliziertere Fähigkeiten entwickeln konnten (vgl. 37f). Die Phantasie ist zwar einer der großen Vorteile des Menschen, aber auch die höheren Tiere und Vögel träumen, so daß man ihnen einen gewissen Grad an Phantasie nicht absprechen kann (38). Ein weiterer Vorteil des Menschen: sein Verstand. Es gibt Tiere, die über ein gewisses Maß an Verstand verfügen, allerdings auf einer niedrigeren Stufe als der Mensch. Darwin gibt aber zu bedenken, daß bei der Entscheidung, ob eine Handlungen aus einem Instinkt oder aus dem Verstand resultiert, einige Schwierigkeiten auftreten. (vgl. 38f)
Obwohl diese hier aufgeführten Eigenschaften vielen bekannt seien, „haben viele Schriftsteller behauptet, dass der Mensch durch seine geistigen Fähigkeiten von allen niederen Thieren durch eine unüberschreitbare Schranke getrennt sei. [...] Es ist behauptet worden, dass nur der Mensch einer allmählichen Vervollkommnung fähig sei, dass er allein Werkzeug und Feuer gebrauche, andere Thiere sich angewöhne, Eigenthum, Besitz und Sprache gebrauche, dass kein anderes Thier Selbstbewusstsein habe, sich selbst verstehe, die Kraft der Abstracion habe oder allgemeine Ideen besitze, [...] dass er an Gott glaube oder mit einem Gewissen ausgerüstet sei. Ich will über die wichtigeren und interessanteren der angegebenen Punkte ein paar Bemerkungen zu geben versuchen.“ (41)
Darwin führt nun eine Reihe von Beispielen an, die er – wie fast alle seine Beispiele – mit Quellenangaben über ihre Herkunft versehen hat und die ihm belegen, daß es für all diese Punkte abgeschwächte Beispiele bei den Tieren gibt.
Den ständigen Gebrauch der artikulierten Sprache zeigt nur der Mensch. Es gibt aber auch einige Tiere, die zu Lautäußerungen in der Lage sind. Diese Äußerungen erfolgen allerdings auf einer Stufe, die der Entwicklung eines Kind im Alter von 10 - 12 Monaten, ähnlich sind. In verschiedenen Experimenten konnte gezeigt werden, dass das Mienenspiel und die Gesten zwischen Menschen und Tieren verstanden werden können. Allerdings ist der Mensch, im Gegensatz zum Tier, aufrund seiner hohen geistigen Entwicklung in der Lage, die verschiedenen Laute mit Ideen [p. 52] zu assoziieren. Durch den vermehrten Gebrauch der Stimme konnte der Stimmapparat gekräftigt und vervollkommnet werden. Außerdem besteht ein bedeutender Zusammenhang zwischen dem Gebrauch von Sprache und der Entwicklung des Gehirns. (vgl. 45-52)
In der Entwicklung moralischer Eigenschaften, denen er sich im dritten Kapitel zuwendet, sieht Darwin ein weiteres interessantes aber auch schwieriges Problem. Als Grundlage betrachtet er jene sozialen Instinkte, wie man sie bei einer ganzen Reihe von Tieren finden kann – aber nicht bei allen. Tiere, die diesen Instinkt haben,
“[...] empfinden Vergnügen an der Gesellschaft anderer, warnen einander vor Gefahr und verteidigen und helfen einander in vielen Weisen. Diese Instinkte werden nicht auf alle Individuen der Spezies ausgedehnt, sondern nur auf die derselben Gemeinschaft.“ (Darwin 1872, 344)
Was er unter einem moralischen Wesen versteht, definiert Darwin so: es muß im Stande sein, sein frühers Handeln und sein künftiges Handeln und die dazu gehörenden Motive mit einander zu vergleichen, einige davon zu billigen, andere zu mißbilligen.13 Auch für Darwin ist der Mensch das einzige Wesen, dem man dies mit Sicherheit zuschreiben kann. Dannoch ist er überzeugt davon, daß sich das moralische Gefühl aus der Natur entwickelt hat, und zwar aus der andauernder und beständigen Anwesenheit der sozialen Instinkte. Dazu kommen aber noch weitere Faktoren: Billigung und Mißbilligung von Handlungen und Motiven erfolgen auch von den Genossen in der Gruppe, die zusammenlebt. Weiterhin nimmt Darwin an, daß auch die übrigen geistigen Fähigkeiten in hohem Maße aktiv sind sowie daß die Eindrücke von vorgangenen Ereignissen noch sehr lebhaft vorhanden sind. Und gerade darin sieht er auch einen erheblichen Unterschied zwischen Menschen und den niederen Tieren.
„In Folge dieses geistigen Zustandes kann es der Mensch nicht vermeiden, rückwärts und vorwärts zu schauen und die neuen Eindrücke mit den vergangenen zu vergleichen. Nachdem daher irgend eine temporäre Begierde oder Leidenschaft seine socialen Instinkte bemeistert hat, wird er darüber refectieren und den jetzt abgeschwächten Eindruck solcher vergangener Antriebe mit den beständig gegenwärtigen socialen Instinkten vergleichen. Und er wird dann jenes Gefühl von Nichtbefriedigung empfinden, welches alle nicht befriedigten Instincte zurücklassen. In Folge dessen entschließt er sich, für die Zukunft verschieden zu handeln, - und dies ist Gewissen.“ (Darwin 1872, 345)
Darwin behauptet nicht, daß jedes streng soziale Tier genau dasselbe moralische Gefühl wie der Mensch erwerben würde, wenn seine intellektuellen Fähigkeiten ebenso aktiv und ebenso hoch entwickelt wären wie beim Menschen“ (Darwin 1871, 60), denn dieses wird außerdem durch ein System anerkannter Handlungsweisen [p.53] maßgeblich beeinflusst. Fest steht für ihn jedoch, dass auf jeden Fall eine Art von Pflichtgefühl oder Gewissen entstehen würde.
Spicker greift von den verschiedenen menschlichen Fähigkeiten, mit deren Entstehung sich Darwin beschäftigt, nur das sittliche Gefühl heraus und stellt fest, daß Darwin versucht, die Entwicklung des Gewissens mit seinen beiden Grundgesetzen Vererbung und Anpassung zu erklären.
"Der folgende Satz scheint mir in hohem Grade wahrscheinlich zu sein, nämlich dass jedes Thier, welches es auch sein mag, wenn es nur mit scharf ausgesprochenen sozialen Instincten versehen ist, unvermeidlich ein moralisches Gefühl oder Gewissen erlangen würde, wenn sich sein intellectuellen Kräfte so weit oder nahzu so weit als beim Menschen entwickelt hätten." (Darwin 1871, 60)
Spicker greift nun den Konjunktiv als irrealis auf uns schreibt:
"Entwickelt hätten! Nun entwickelt aber kein Tier seine intellektuellen Kräfte soweit wie der Mensch." (MT 205f)
Spicker lässt ein längers Zitat aus dem Schluss des dritten Kapitels folgen, in dem Darwin den ungeheuren Unterschied zwischen der Seele des niedrigsten Menschen und der des höchsten Tieres noch einmal betont. Gleichsam in einer Fiktion läßt Darwin dann einen "anthropomorphen Affen leidenschaftslos seinen eigenen Zustand beurteilen" und schließt diese Fiktion mit der Feststellung:
"Sie können behaupten, dass sie bereit wären, ihren Genossen in derselben Herde auf viele Weisen zu helfen, ihr Leben für sie zu wagen und für ihre Waisen zu sorgen; sie würden aber genöthigt sein, anzuerkennen, dass eine interessenlose Liebe für alle lebenden Geschöpfe, dieses edelste Attribut des Menschen, völlig über ihre Fassungskraft hinaus ginge." (Darwin 1871, 90)
Spicker sieht darin das Zugeständnis Darwins, daß die höchsten Tiere eben keine Sprache, keine Moral, keine Religion, keine Kunst, keine Wissenschaft, d.h. keine Selbstbewußtsein als Grundlage all dieser Fähigkeiten, besitzen. Und Spicker kommt zu dem Schluß:
"Das Sittengestz aus den sozialen Instinken erklären zu wollen, ist deshalb ein vergebliches Bemühen." (MT 206f)
Direkt im Anschluß an die von Spicker zitierte Stelle bringt Darwin seine Überzeugung nochmals zum Ausdruck, daß für ihn die Verschiedenheit zwischen Mensch und Tier eine Verschiedenheit des Grades ist und nicht der Art. Er äußert die Vermutung, das gewisse Fähigkeiten - er nennt Selbstbewusstsein, Abstraktion - [p. 54]
"[...] begleitende Resultate anderer weit fortgeschrittener intellectueller Fähigkeiten sind; und diese wiederum sind hauptsächlich das Resultat des fortgesetzten Gebrauchs einer höchst entwickelten Sprache." (Darwin 1871, 91)
So haben wir auch keine Antwort auf die Frage, wie sich beim neugeborenen Kind das Abstaktionsvermögen, das Selbstbewußtsein und die Reflektion über die eigene Existenz entwickeln. Darwin hebt hier auf die Vorstellung ab, daß die Entwicklung in der Evolution zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit der Entwicklung des Individuums aufweisen kann.
Spicker dreht die Fragerichtung generell um:
"Die Frage ist nicht, wie wenig dereinst die Menschheit Capacität besaß oder verschiedene Stämme noch gegenwärtig besitzen, sondern wie es überhaupt möglich war, dass die Intelligenz zu dieser Höhe sowohl als zu diesem Umfange sich entwickeln konnte." (MT 209).
Da nun Darwin weder die Vernunft noch das Gewissen zu erklären vermochte, „fällt auch Prantl's Behauptung, welche auf dieses Fundament sich stützt, weg“ (MT 211).
Für Spicker sind „Vernunft“ und „Selbstbewußtsein“ fest definierte Begriffe, die keine Abstufung zulassen, - etwas Vernunft, Selbstbewusstsein - sondern es gibt nur entweder Haben oder Nicht-Haben.
Spicker war nicht ganz unbedarft auf dem Gebiet der Biologie, hatte er doch – wenn auch nur sehr kurz – während seiner Münchener Zeit (1864-1869) nach seiner Dissertation (1867) und auf den Rat hin, noch etwas „Praktisches“ zu lernen, da die Philosophie eigentlich kein „Brotfach“ sei, seine Studien in diese Richtung erweitert. Er berichtet darüber:
Einerseits waren die Aussichten des Privatdozententums nicht verlockend, „andererseits bedachte ich mit richtigem Instinkt, der sich in der Folge immer mehr und mehr bestätigte, daß mir für die meine Philosophie die reale Grundlage fehle. Das ungeheure Aufsehen, welches gerade damals der Darwinismus in allen wissenschaftlichen Kreisen hervorrief, brachte mich zu der Überzeugung, daß Anatomie, Physiologie, Embryologie, Zoologie usw. unbedingt notwendig seinen, um sich einen tieferen Einblick in den komplizierten Inhalt zu verschaffen. So hörte ich denn mehr aus theoretischem als aus praktischem Interesse alle diese Vorlesungen, um vielleicht zwei Fliegen mit einer Klappe zu treffen, nämlich ein festes Fundament für die Philosophie zu gewinnen und allenfalls in der Aussicht, Mediziner zu werde.“ (KL3 122)
Wie lang er diese Studien betrieb, kann ich nicht genau angeben, aber es können allerhöchstens 2 Jahre gewesen sein. [p. 55]
Des weiteren kannte Spicker einige Arbeiten des Biologen Karl Ernst von Baer (1792-1876)14. Daß er den Ausdruck der „Zielstrebigkeit“, der für das Verständnis Spickers eine wichtige Rolle spielt, von ihm übernommen habe, belegte er in VG 82f.15 Daher werde ich kurz derstellen, wie von Baer diesen Begriff entwickelt:
„Von den einzelnen Vorgängen der Natur, auch wenn sie augenscheinlich zu einem Resultate führen, haben wir nicht das Recht zu behaupten, irgend ein Denkendes habe diesen Zweck bei sich entwickelt.“ (Baer 1886, 81)
Zwar fängt jeder Wissenschaftler beim Einzelnen an, aber er kann sich dann schon fragen, ob ihn diese Einzelerkenntnisse zu einem letzten Grund führen.
„Fängt er mit diesem Urgrunde als einem wollenden und bewussten an, so ist der willkürlichen Deutung des Naturforschers Thür und Thor geöffnet, da er diesen Urgrund nicht wirklich kennt. Diese Schrankenlosigkeit ist es, welche der früheren Teleologie den willkürlichen Charakter gab." (Baer 1886, 81)
Die Opposition, die sich nun hiergegen gebildet, lehnt alle Zweckvorstellungen ab und läßt nur Notwendigkeit gelten. Alle Einzelheiten aber wären dann nur Zufall. Wir erkennen aber andererseits, daß in der Natur alles Einzelne immer wieder ein anderes voraussetzt.
„Wir sehen also immer einen Vorgang in Beziehung zu andern stehend. Die Resultate dieser Vorgänge wollen wir Ziele nennen [...] Der Begriff des Wortes 'Ziel' ist ein mehr unbestimmter, der wegen dieser Unbestimmtheit den Zweck mit einschließen kann. Er setzt aber nicht, wie dieser, ein Bewußtsein voraus. Das Ziel ist das Ende einer Bewegung und schließt nicht im Geringsten die verwendete Nothwendigkeit oder Nöthigung aus, sondern wird durch diese um so sicherer erreicht.“ (ebd. 82)
Von Baer gibt dann ein Beispiel, um seinen Gedankengang zu verdeutlichen:
„Wenn ich einen Pfeil oder eine Büchsenkugel in ein Ziel treiben will, so verwende ich dazu mechanische Kräfte in dem nöthigen Maaße und in der pas- [p. 56] senden Richtung; den Zweck, den ich dabei habe, kann ich ganz für mich behalten, der Pfeil geht, vorausgesetzt, daß alles richtig abgemessen war, mit absoluter Nothwendigkeit ins Ziel, ohne den Zweck zu kennen.“ (ebd.)
Von Baer schlägt daher vor, die Begriffe „Ziel“, „Zielstrebigkeit“ in die Naturwissenschaft einzuführen, obwohl er gleichzeitig zugibt, für die Gesamtheit der Natur doch lieber den vollen Zweckbegriff anwenden zu wollen; und daß er sich dabei ein bewußtes und wollendes Wesen denke.(ebd.) Welchen Vorteil dieser Begriff der Zielstrebigkeit hat und daß er von auch die Evolutions-Theorie von Baers prägte, möchte ich am folgenden Zitat zeigen.
„Wollte ich sagen: Dieses eben gelegte Hühner-Ei hat den Zweck ein Huhn zu werden, so würde wohl der Zuhörer die Frage in sich auftauchen fühlen Wie? ist da schon ein bewußtes und wollendes Wesen darin? Wenn ich aber sage: Dieses Ei hat die Bestimmung, ein Hühnchen auszubilden, so wird Jedermann damit einverstanden sein, denn er weiß ja, daß es auf natürlichem Wege geformt ist und in ihm die Fähigkeit, ja beim Zutritt passender Wärme die Nothwenigkeit liegt, ein Hühnchen zu bilden. Mit demselben Rechte kann ich aber auch sagen: Das Ziel des Eies, seiner bisherigen Bildung usw. ist die Entwickelung eines neuen Hühnchens. Ich abstrahire dabei von dem bewußten Zwecke, den ich doch in der That weder im Dotter, noch im Eiweiß zu suchen das Recht habe, sondern viel weiter zurück suchen müßte, da sämmtliche organischen Körper auf irgend eine Weise neue Individuen ihrer Art erzeugen. Mit dem Wort 'Ziel' bezeichne ich nicht allein das Resultat der Thätigkeit, die Gränze der Bewegung (hier der Umformung), sondern ich erkenne indirekt auch die zwingende Nötigung an, aber wohlgemerkt, nicht eine richtungslose, sondern eine zielstrebige. Die Nothwendigkeiten der Welt, die kein Ziel haben, können auch zu nichts Vernünftigem führen.“ (Baer 1886, 82f)
In einem anderen Aufsatz (Baer 1876, 241f) entwickelt v. Baer seine Auffassung noch einmal, daß keine Transmutation stattfindet (Jeder Embryo durchläuft in seiner Ontogenese noch einmal andere, frühe Vorformen, z.B. Ansatz von Kiemenbildung usw.), sondern die Entwicklung einem von vier Grundbauplänen folgt und sich dann immer weiter über Ordnung, Familie bis zum Individuum ausdifferenziert. Er kommt dann zu dem Schluss, wir müssten
„zugestehen, dass in einer weit entlegenen Vorzeit eine viel gewaltigere Bildungskraft auf der Erde geherrscht habe, als wir jetzt erkennen, möge diese nun durch Umbildung der bereits bestehenden Formen oder durch Erzeugung ganz neuer Reihen von Formen gewirkt haben.“ (Baer 1886, 245)
Darwin und von Baer – beide bedeutende Biologen des 19. Jahrunderts - begründeten zwei gegensätzliche Ansätze in der Biologie:
Für Darwin fußt die Biologie auf dem Studium der Phylogenese - für von Baer dagegen auf dem Studium der Ontogenese, d.h. Ersterer ging von der Ent- [p. 57] wicklung der Gattung, also Stammesgeschichtlich vor, letzerer ging von der Entwicklung des einzelnen Individuums aus.
Für Darwin liegt die Quelle der Vollkommenheit außerhalb des Organismus, in der Umgebung - für von Baer innerhalb, im Organismus.
Darwin lenkte Hauptaufmerksamkeit auf die Mikroevolution und in der systematischen Ordnung tiefer stehenden Arten (niedere Taxa). - Von Baer lenkte die Hauptaufmerksamkeit auf die Makroevolution und in der Systemaitk höher stehenden Arten (höhere Taxa).
Für Darwin sind die Entwicklungsänderungen hauptsächlich genetisch. - Für von Baer sind die Entwicklungsänderungen hauptsächlich epigenetisch.
Dies spiegelt sich auch in der Auffassung der Teleologie: Darwin versucht die Erklärung mit Hilfe der Evolutionsfaktoren ohne eine Zielgerichtetheit, während von Baer glaubt, nicht darauf verzichten zu können.
Spickers Kritik an seinem Lehrer richtet sich gegen dessen Hauptthese, dass der Zeit-Sinn es sei, der Mensch und Tier unterscheide. Ich geben im Folgenden zunächt Prantls Text abschnittweise wieder, um dann den einzelnen Abschnitten Spickers Kritik folgen zu lassen:
„Hiermit aber wären wir an dem Puncte angelangt, an welchem es nöthig ist, den zwischen Mensch und Thier bestehenden Unterschied präcis zu formuliren, um hiedurch ohne jede Beiziehung dualistischer Anschauungen das Motiv der oft erwähnten Steigerung unzweifelhaft zu verstehen. Schlicht und tief möge der Satz an die Spitze gestellt sein: 'Der Mensch hat Zeit-Sinn'. Auch den Materialismus möchte ich um eben dieses eine Zugeständniss bitten, damit ich gegen denselben ebensosehr eine feste Basis gewänne als ich andrerseits der supranaturalistischen Beihilfe des Dualismus nicht bedarf.“ (PRL 172)
Was Spicker an diesem Abschnitt kritisiert, ist zunächst einmal die Frage nach den „Unterschied“ zwischen Mensch und Tier, der sich aus der „Steigerung“ verstehen lassen soll. Für ihn ist es „ein logischer Widerspruch, welcher der ganzen Theorie zu Grunde liegt, daß auf jeder Stufe der Entwicklung stets in der Wirkung mehr enthalten seyn soll als in der Ursache“ (MT 235f)
„Wenn für sämmtliche übrigen so genannten Sinne die gemeinsame Bezeichnung 'Raum-Sinne' oder 'Sinnes-Perception des expansiven Seins' gewählt werden darf, so besitzt der Mensch ausser diesen Raum-Sinnen, welche er mit der Thierwelt gemein hat, auch einen Zeit-Sinn, d.h. die Gehirn-Thätigkeit des Menschen ist befähigt, auch die reine Succession als solche und die reine Intensität des Geschehens überhaupt zu erfassen.“ (PRL 172f.)
[p. 58] Die Befähigung zum Erfassen der „reinen Succession“ und der „reinen Intensität“ läßt Spicker fragen, was Prantl hier unter „rein“ versteht. Obwohl Prantl an einer früheren Stelle „einen Kampf gegen das 'reine Denken' oder 'reine Sein' Hegels zu führen oder zu erneuern“ (PRL 163) als überflüssig ablehnt, spricht er hier von „reiner Succession“ und „reiner Intensität“, die nach seiner Auffassung durch die „Gehirn-Tätigkeit des Menschen“ ermöglicht sind16. Spicker fühlt sich an einen Ausspruch Langes erinnert, den er in NP untersucht hatte. Hier hatte er deutlich herausgearbeitet, daß Langes Ausspruch:
„Denn während es stets eine unüberwindliche Klippe für den Materialismus blieb, zu erklären, wie aus stofflicher Bewegung eine bewußte Empfindung werden könnte, so ist es dagegen keineswegs schwer zu denken, daß unsre ganze Vorstellung von einem Stoff und seinen Bewegungen das Resultat einer Organisation von rein geistigen Empfindungsanlagen ist.“ (Lange 1875, 870f)
in sich einen Widerspruch enthalte, und er sei, wie er vermerkt, dafür von Prantl gelobt worden wegen der „mit logischer Schärfe durchgeführten Prüfung dieser eigenthümlichen doppelten Buchführung, welche trotz zugespitzter Polemik gegen die Metaphysik dennoch wieder von rein geistigen Empfindungsanlagen spricht – oder an eine Umsetzung der reinen Vernunft in Physiologie mittels Reflexbewegung denkt“ (MT 221). Ebenfalls positiv habe sich Prantl über Spickers Kant-Kritik in KHB17 geäußert, wobei er besonders erwähnte, dass Spicker „in richtiger Weise die Berechtigung des Begriffs rein und daher auch die ganze Trennung zwischen Sinnlichkeit und Verstand bestreite“ (ebd.).
Daher ist Spicker geradezu verwundert, die gleiche Behauptung nun bei Prantl zu lesen. Spicker zieht im weiteren Verlauf seiner Untersuchung Kants Aussagen über apriorische Erkenntnisse zum Vergleich hinzu, in denen Kant als Beispiel die Mathematik anführt, und kommt zu dem Schluß:
„Behauptet nun Prantl nicht ganz dasselbe, wenn er von der Mathematik sagt, daß sie 'im Zählen und zählenden Messen den Faden er reinen Succession fortzuspinnen vermöge,' daß sie sich dadurch 'über das concret-momentan Sensuale erhebe' und 'ihre einzige Anknüpfung an Sinnliches darin bestehe, daß auch sie in Worten oder Abkürzungs-Surrogaten gesprochener Worte kundgegeben werden müsse?' [PRL 177 -AH]“ (MT 222f)
Weiter zum Text von Prantl: [p. 59]
„Sobald diess als einfache Thatsache zugestanden ist, ergibt sich in ungezwungenster Entwicklung alles Weitere, was mit Recht stets als entscheidend für das Wesen des Menschen und dessen Gesammt-Entfaltung gegolten hat und gelten wird. Nemlich: der Mensch kann zählen (sei es dass er z.B. durch Striche die Abfolge der Tage fixirt, oder dass er gesticulativ mit den Fingern die Anzahl vorliegender Gegenstände erfasst und ausdrückt), und indem er mittels eines solchen Zeit-Sinnes, welchen wir der gesammten Thierwelt absprechen müssen, befähigt ist, den Faden der reinen Succession als solcher fortzuspinnen, zeigt er eine Begabung, für welche wir vielleicht die Bezeichnung 'Continuitäts-Sinn' wählen dürfen. (PRL 173; Hervorhebungen bei Spicker)
Die „einfache Tatsache“, die hier zugestanden werden soll, „enthält gerade das Problem des Unterschiedes zwischen Thier und Mensch“ (MT 223):
Zunächst einmal ist die „Tatsache“ alles andere als einfach. Wenn aus ihr Familie, Sittlichkeit, Rechtsordnung, Kunst, Religion und Wissenschaft hervorgehen, wenn also der Zeitsinn „obige sechs Triebe enthält, so ist offenbar diese Thatsache nicht einfach“. Und Spicker wirft seinem Lehrer hier eine petitio principii vor, weil, was bewiesen werden soll, schon vorausgesetzt wird18.
Und noch ein Problem: wird der Zeitsinn den Tieren ganz abgesprochen, wie kann dann der Mensch eine hochgradige Steigerung des Tieres sein? Wenn der Zeitsinn den Tieren geaduell zukommt – und sei es noch so niedrig – dann muß ihm auch in gleichem Grad der Sinn für Familie, Sittlichkeit, Recht, Religion, Kunst und Wissenschaft zukommen. (vgl. MT 224). Aus den Ausführungen Prantls geht aber klar hervor, dass er den Tieren den Zeitsinn gänzlich abspricht19. Damit aber ist der Mensch eben „nicht bloß dem Grade, sondern dem Wesen nach vom Thier verschieden“ (MT 225f). Gleichzeitig ist für Spicker damit „der Begriff der stetigen Entwicklung vom Thier zum Menschen aufgehoben und die alte Kluft zwischen beiden wieder hergestellt“ (MT 226).
"Hieraus [aus dem Continuitätssinn – AH] ergibt sich jene Befähigung des Menschen, vermöge deren er sich selbst bewusst ist, in späterer Zeit der nemliche zu sein, welcher er früher war (das unwandelbare Ich-Bewusstsein oder Kants [p. 60] trancendentale Apperception), und eine Folge hievon ist es, dass er von der inhaltlichen Fülle der druchlebten Zeittheile absehen und sonach jene Auffassung der reinen Succession auch über die Gegenwart hinaus fortzuspinnen vermag, sowie er aus dem gleichen Grunde in den aufgespeicherten Schatz der früheren Eindrücke nach Belieben hineingreifen kann, so dass, was bereits beim Thiere als Gedächtniss zu bezeichnen ist, sich hier zur sopntanten Rückerinnerung steigert.“ (PRL 173)
Da Prantl hier selbst den Continuitätssinn mit der Kantschen „Apperception“ gleichsetzt, stellt Spicker die einschlägigen Passagen aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“ zusammen und resümiert:
„Nun wissen wir, was es heißt: Der Mensch hat einen Zeit-Sinn. Es kann damit nichts anderes gesagt sein als: Der Mensch hat Verstand. Und da der Verstand das Vermögen ist, 'zu urteilen', 'zu denken', 'Begriffe zu bilden', so besagt obiger Satz nicht mehr und nicht weniger als: Der Mensch kann denken.“ MT 229)
Spickers Vorwurf an Prantl lautet indirekt, er sage nichts Neues, sondern er gebrauche nur neue Worte für schon Bekanntes, und dass dann auch noch in unklarer Weise.
In den folgenden Abschnitten will Spicker nun beweisen, dass Prantl mit seinem monistischen Ansatz nicht über den dualistischen Standpunkt Descartes hinausgekommen ist. Um dies zu belegen, zeigt Spicker zunächst, dass Descartes den Tieren die selben Fähigkeiten zugesteht, wie dies Prantl macht und das auch bei Descart noch ein Etwas hinzukommt, was man beim Menschen zwar findet, aber nicht beim Tier. Bildliche Vorstellung und sinnliche Wahrnehmung haben Mensch und Tier gemeinsam. Beides bildet „die empirische Grundlage“ für die höheren Funktionen, durch die sich der Mensch spezifisch vom Tier unterscheidet (vgl. MT 230). Allgemeine Sätze und Axiome als ewige Wahrheiten haben nur im Geiste ihren Sitz20.
Diese Überlegungen zusammenfassend kommt Spicker zu dem Ergebniss, daß letztlich Prantls Zeit-Sinn nichts anderes sei als Kants transzendentale Apperzeption und Dacartes' Cogitatio. Beide Standpunkte haben sich bisher als unfähig erwiesen, das anstehende Rätsel zu lösen. Wenn nun nach Prantl der Dualismus „überhaupt als die Verneinung der Philosophie erscheint“ (Prantl 1875, 162), der Monismus aber als die eigentliche Philosophie betrachtet wird, hält es Spicker für beweisbar, daß der [p. 61] Monismus in dieser Form eine Verneinung der Philosophie sei und „dass der Dualismus ungleich tiefer und schärfer das Problem erfaßt als jener“ (MT 240).
Prantl argumentiere, bezüglich des Wollens bei den Tieren und bei deren lautlichen Kundgebungen gäbe es das Moment einer Beabsichtigung, welche auf das individuelle Wohl gerichtet sei. Absicht zeige sich aber schon ganz deutlich in den Reflexbewegungen, die völlig unwillkürlich seien. Bei den Wirbeltieren erfolgen diese als Prozesse zwischen den sensitiven und den motorischen Nerven ohne jede Beteiligung des Gehirns. Und Prantl behaupte weiter, dass durch die Gehirntätigkeit die Wechselbeziehung zwischen den beiden unterschiedlichen Nervenbahnen zum Zweck des individuellen Wohls im Gehirn zentralisiert werden. Wenn er das als das Wollen des Tieres bezeichne, handle es sich um nichts weiter als um einen reinen Nervenprozeß: die sensitiven Nerven wirken auf die motorischen, und das Gehirn ist die zentrale Stelle für den Wechselverkehr: das heißt aber in der Konsequenz Materialismus.
Ein Vergleich von Textpassagen aus Prantls Arbeit mit solchen aus dem „Grundbuch des heutigen Materialismus“ (MT 242)21 zeigt Spicker, „daß Prantl nicht nur dem Wesen, sondern auch dem Ausdruck nach völlig im Materialismus aufgeht. (MT 247).22
Prantl gesteht dem Materialismus zu, daß "auch beim Menschen sämmtliche Regungen des Willens durch vorhergehende kausalwirkende Momente determiniert seien" (PRL 176). Gleichzeitig bittet er um das Zugeständnis, dass in jedem Kausalzusammenhang beim Menschen zusätzlich noch Momente mitwirken, die das Tier nicht hat. Diese Momente sind eine Selbständigkeit der Materie gegenüber, denn ich kann Materielles meinen Absichten nutzbar machen. Wird diese Möglichkeit der Selbständigkeit und Unabhängigkeit "positiv in fortschreitender Steigerung" genutzt, den gesamten Zustand des Menschen und seiner Umgebung dem absichtlichen Handeln zu unterstellen, entwickelt sich daraus der "ideale Sinn". Dieser ideale Sinn gestaltet das vorgefundene Reale und verfolgt dabei ideale Zwecke. Sehen wir nun in diesem idealen Sinn den Ursprung (die Quelle) aller Höherenwick- [p. 62] lung, die dem Tier fehlt, reicht als einziges Postulat zur Erklärung des Unterschiedes zwischen Mensch und Tier der Zeitsinn.(vgl. PRL 174)
Spicker nun bezweifelt, dass diese Erklärung genüge. Ihm fehlt das Eigentliche, will sagen, das Kernproblem ist noch nicht berührt. Und das ist nicht die Frage, ob der Mensch Zeitsinn oder Selbstbewusstsein, Familie, Staat usw. habe. Dies zu leugnen wäre Unsinn. Der zentrale Punkt für Spicker ist ein ganz anderer:
"[...] ob das Selbstbewußtseyn und was damit zusammenhängt, materieller oder geistiger Natur sey; ob der Geist ein Product der Materie, eine Function derselben, oder umgekehrt, die Materie nur eine Vorstellung des Geistes ist; ob im ersten Fall eine Willensfreiheit möglich und ein 'selbständiges absichtsvolles Walten mit den Eindrücken und Gegenständen.' Die Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen macht die eigentliche Aufgabe der Philosophie aus, aber nicht der Nachweis, daß es solche Fähigkeiten und Thätigkeiten im Menschen gebe." (MT 248)
Nach Spicker geht es letztlich um die Frage: Idealismus oder Materialismus. Macht es einen Unterschied, wenn ich weiß, ob die Welt letztlich von einem geistigen oder von einem materiellen Prinzip abstammt? Für Spicker steht im Hintergrund die Frage nach der Möglichkeit der Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens: in einer aus einem rein materiellen Prinzip abstammenden Welt sind beide nicht möglich. Wenn daher Prantl mit "idealem Sinn" meint, dass hier die Geburtsstunde des Geistes ist, dann haben wir damit einen Materialismus vor uns, in dem es – wenigstens nach Spicker – weder Unsterblichkeit noch Willensfreiheit - und damit Verwantwortung – gibt23.
„Und während wir die dualistische Anschauung, dass der Mensch aus zwei verschiedenen und trennbaren Wesen zusammengesetzt sei, grundsätzlich ablehnen, bleibt uns dennoch sehr wohl verständlich, dass eine Heterogenität zwischen den sensual-physiologischen Impulsen und den idealen Impulsen besteht; dieselben sind genau ebenso heterogen, als Raum und Zeit es sind, und sowie wir trotz dieser Heterogenität es gewiss nicht unternehmen, das Universum dualistisch in Raum und Zeit zu spalten, so werden wir auch jene Wesenseinheit nicht zerstückeln, welche der mit Raum-Sinnen und mit Zeit-Sinnen ausgerüstete Mensch ist. Während wir aber in der Heterogenität eine feste Basis gegen [p. 63] den die idealen Impulse verneinenden Materialismus besitzen, bleibt uns die Philosophie andrerseits bewahrt vor jedem Supranaturalismus, welcher rettungslos auf dualistische Wege führt. So wäre ein Versuch ermöglicht, für die Philosophie allseitigst den Idealismus möglichst hoch zu halten, ohne hiezu supranaturalistischer Annahmen zu bedürfen.“ (PRL 174f)
Spicker stellt die Frage, was hier genau unter Heterogenität zu verstehen sei: Bedeutet es einen Gegensatz, dann sind Raum und Zeit, die hier von Prantl als Beispiel angeführt werden, nicht heterogen.24 Sind sich aber nur dem Grade nach unterschieden, dann unterscheiden sie sich wie Sensuelles und Ideelles, wie Mensch und Tier. Diese aber unterscheiden sich aber entweder nur graduell, dann sind wir in einem Zirkel, oder dem Wesen nach, dann sind wir im Dualismus.
Gegen den Materialsmus bietet diese Überlegung ebenfalls keine Basis: dieser stellt ideale Impulse nicht in Abrede, sondern verneint nur ihre geistige Verursachung; genau das aber tut Prantl auch.
„Nur die Ursache oder das Princip bedingt einen Unterschied, nicht die Funktion, die Wirkung, oder die 'Triebe'.“ (MT 251)
Spicker sah, daß im „Kampf um den sogenannten Darwinismus“ die Naturwissenschaften wider Erwarten von der doch so verpönten Metaphysik regen Gebrauch machten. Bei dem Versuch, Pflanzen, Tiere und Menschen sich auseinander entwickeln zu lassen, mussten die Naturwissenschaften als „Grund und Ursache“ ein letztes Prinzip annehmen. Dies aber konnte, da die Naturwissenschaften der mechanistischen Auffassung folgen, nur die Materie sein. Das Voraussetzen dieses Prinzips ist aber schon Metaphysik. Dies ist für Spicker die positiv-metaphysische Behauptung.25
Materie als letzter Grund aller Erscheinungen ist Spicker etwas Transzendentes: Materie als letzter Grund ist nicht empfundene Ursache, sondern gedachte Ursache. Spicker weiter:
"Es müsste denn nur Jemand die Empfindung selbst für das Princip aller Dinge erklären. Dies würde aber folgerichtig zum subjectiven Idealismus führen." Und weiter "Wenn aber die Empfindung selbst nicht der letzte Grund ist, so muss es etwas außerhalb der Empfindung sein. Nun kann doch die Empfindung nicht über sich selbst hinaus, oder gleichsam hinter sich zurück. Also [p. 64] kann die Ursache, welche außer uns, die Empfindung in uns hervorruft, nur gedacht werden. [...] Folglich ist die Materie als Princip ein Product des Denkens."26 (MT 251)
Denken heißt für Spicker, Vorstellungen mit einander zu verbinden oder ein Prädikat auf ein Subjekt zu beziehen oder eine Wirkung auf ihre Ursache. Als Stoff ist aber die Materie nicht in der Vorstellung, da jene nur ein psychisches Bild ist. So kann ich körperliche Schmerzen oder sinnliche Eindrücke nur in der Vorstellung wiederholen, nicht aber als Empfindung. Was aber ist dann Materie?
Spicker bekennt, daß noch kein Idealist geleugnet habe, daß es etwas außer uns gebe. Die Materialisten nennen dieses Etwas Stoff, aber dabei „objectiviren [sie, AH] lediglich ihre eigenen Sinnesaffectionen, von denen sie absolut nicht behaupten können, ob das, was diese Sinneserregungen bewirken, ein denselben völlig adäquater Gegenstand sey.“ Und weiter:
„Der naive Materialismus ist deshalb so gut bloß subjectiv, wie der reine Idealismus. Der eine stützt sich nur auf unmittelbare Empfindungen, der andere nur auf die eignen Vorstellungen. Darum kommt keiner über sich selbst hinaus, und müssen deshalb beide als subjectivistisch verworfen werden. Nur das Denken allein oder die Fähigkeit Vorstellungen aufeinander zu beziehen, erhebt uns über den Subjectivismus. Indem ich meine Empfindungen der Undruchdringlichkeit, Schwere, Ausdehnung als Wirkungen auf einen Gegenstand außer mir als Ursache beziehe, d.h. eben denke, komme ich über mich selbst hinaus zu einer Welt von Objecten, die dem Seyn nach unabhängig von mir existieren. Das Denken also ist der letzte Grund der Welt als erkannter, und von einer andern als der in unsere Erkenntniß aufgenommenen wissen wir nichts.“ (MT 252f.)
Da man das Vermögen des Empfindens, Vorstellens und Denkens Geist nennt, „ist denn der Geist das Ursprüngliche, Substanzielle, der archimedische Punct, welcher meine ganze Welt von Erscheinungen bildet und trägt.“ (ebd.)
Spicker beschreibt den menschlichen Fortschritt im Leben und in der Wissenschaft als Fortschritt unserer Einsicht und Erfahrung, nicht als Erweiterung der Natur. Die gesamte Kultur ist für ihn „nichts anderes als die entwickelte Menschheit, wobei die Natur an sich weder etwas gewonnen, noch verloren hat.“ (ebd.). Die Natur existiert unabhängig vom Menschen, auch dann, wenn plötzlich alles menschliche Leben erstürbe.
„Folglich ist die Menschheit innerhalb der Natur ein für sich bestehendes Ganzes, das den Zweck nicht in jener, sondern in sich selbst hat. Der Mensch ist wirklich nicht um der Natur, sondern um seiner selbst willen da. Und insofern er in sich selbst den Zweck findet, kann ihm die Natur nur als Mittel dienen. Darum können wir mit Recht behaupten, daß der Mensch der Zweck der [p. 65] Welt, nämlich unserer, von uns vorgestellten, von uns benutzten Welt sey.“ (MT 253f)
Hiermit glaubt Spicker eine feste Basis gegen den Materialismus gewonnen zu haben, obwohl er sich der Schwierigkeiten dieses Ansatzes bewußt ist. Damit lassen sich weder das Wesen der Empfindungen noch ihre Entstehung erklären. Die bisherigen Erklärungen arbeiten und liefern bloße Worte für ganz unerklärte Vorgänge.
Prantls Überlegungen zum Willen sind nach Spickers Untersuchung ebenso unklar. Beim Tier sind die Willensäußerungen kausal durch äußere Reize und die sich anschließende Nerventätigkeit verursacht. Wenn außer „diesem Causalzusammenhang beim Menschen noch eine Gruppe von Momenten mitwirkt, deren das Thier entbehrt“ (PRL 176), bleibt zunächst unklar, welche das sind; sind die Ideen, nach denen Menschen handeln, lediglich materielle Ausflüsse des Gehirns, ist eine Freiheit des Willens nicht denkbar. Aber genau den postuliert Prantl, wie folgende Stellen belegen:
„Der Zeit-Sinn aber enthält die Befähigung vom concret momentanen Sensualen abzusehen und den Faden der reinen Succession fortzuspinnen, und in dieser Fähigkeit der Selbständigkeit liegt schlicht und einfach, aber zugleich auch unabweisbar die vielbestrittene Freiheit des menschlichen Willens begründet, welche von den einfachsten Regungen des Zeitsinnes an die untrennbare Begleiterin aller idealen Impulse ist. [...] Die im Zeitsinne liegende Begabung, welche von selbst sich über das momentane Materielle erhebt und somit das Motiv einer Selbständigkeit enthält, ist wesentlich mit allen Willens-Entschlüssen des Menschen verbunden, welcher sonach die Möglichkeit und den Beruf in sicht trägt, innerhalb des Materiellen über dasselbe hinauszugehen. [...]27 Ist auf solche Weise gegenüber dem Materialismus die Willensfreiheit des Menschen wirklich gerettet, so sind wir zugleich von jenen Gefahren unberührt, welche der folgerichtige Supranaturalismus in dieser Beziehung unabweisbar in sich birgt; denn dass derselbe die menschliche Freiheit aufhebt, kann für den Denkenden durch keine Künstelei scholastischer Argumente vertuscht werde.“ (Prantl 1975, 176; Hervorhebungen bei Spicker hinzugefügt)
Spicker kritisiert im Wesentlichen drei Punkte. Zunächst ist Freiheit für ihn zu verstehen als Unabhängigkeit vom Kausalzusammenhang, wohingegen der freie Wille als „Begleiterin aller idealen Impulse“ allenfalls die Möglichkeit eröffnet, Wollen zu können (vgl. MT 258). Zum Zweiten ist der Wille nach Prantl materiellen Ursprungs, [p. 66] da der Zeitsinn in der Gehirntätigkeit besteht (siehe dazu weiter oben). Daher kann der Wille nicht über die Materie hinaus gehen. Zudem müßte den Tieren dann auch freier Wille zugestanden werden, da auch sie „über den schlechthin momenatanen Charakter der einzelnen Sinnes-Eindrücke hinaus“ (PRL 172) gehen. Drittens hat Prantl sich vor den „Gefahren“ des Supranaturalismus gerettet, indem er nach dem letzten Grund der Dinge und folglich auch des Willens gar nicht fragt (vgl. MT 258f).
Die Evolutionsmechanismen „Kampf ums Dasein“, Auswahl, Vererbung, Anpassung sind die Mittel zu höherer Vollkommenheit, womit für Spicker zweifelsohne eine Zielstrebigkeit28 vorhanden. Nur soll diese eben als „mechanisch, kausal, aus einer blinden Notwendigkeit und nicht etwas teleologisch“ agierend gedacht werden. (vgl. WW² 15) Spicker hingegen glaubt, diese Momente der Zielstrebigkeit (Auslese der Besten, Anpassung, Vererbung) auf einen Begriff zurückführen zu können, der für seine Philosophie zentral ist: Selbsterhaltungstrieb. Dieser Selbsterhaltungstrieb, der somit zur generellen Grundausstattung des Menschen wird, richtet sich sowohl auf den Einzelnen als auch auf die gesamte Gattung. Und das in diesem Trieb ein bestimmtes Ziel angestrebt wird, ist für Spicker ohne Zweifel, wobei er offen läßt, ob das bewußt oder unbewußt geschieht. (vgl VG 83). Prantl hingegen steht dem Begriff der Notwendigkeit ausgesprochen skeptisch gegenüber, dazu zum Schluß noch etwas.
In Prantels Arbeit haben die Ausführungen zum Zeit-Sinn die Aufgabe, eine Basis zu liefern für das eigentliche Thema: Sprache und Denken. Prantls Auffassung ist, das Denken und Sprechen hochgradige Steigerungen schon bei den Tieren vorhandener Fähigkeiten sind. Auch hier macht Spicker zunächst die gleichen Bedenken geltend: Ist dem Menschen als Denkendem gegeben, sich mit einem Gegenstand denkend zu beschäftigen oder ihn achtlos bei Seite zu lassen, setzt dieses die Freiheit des Willens voraus, und das heißt, dass ein wesentlicher und nicht nur ein gradueller Unterschied besteht (vgl. MT 261). Andernfalls, wenn der Mensch mit seinem Denken nicht außerhalb des Kausalnexus steht, ist er „nur ein Instrument, welches von der Natur gespielt wird, ein willenloses Werkzeug, aber kein freies, sich selbst bestimmendes Wesen.“ (MT 262).[p. 67]
Endlich behauptet Prantl eine „untrennbare Wesens-Einheit des Denkens und des Sprechens:
„Eben aber weil wir die Heterogenität, durch welche das Wesen des Menschen sich von jenem des Thieres unterscheidet, nur als das Ergebniss einer in Steigerung fortschreitenden Entwicklung betrachten, in welcher die unter sich weit abliegenden Stufen sich als 'Anstände' ergeben, so bleibt dabei eine grundsätzlich gleichmässige Betrachtungs-Weise der verschiedenen Stufen bestehen. D.h. sowie wir bei den Thieren dasjenige, was als Kundgebung derselben zu bezeichnen ist, nicht dualistisch von den sog. inneren psychischen Vorgängen der Auffassung zu trennen vermögen, ebenso werden wir beim Menschen eine untrennbare Wesens-Einheit des Denkens und des Sprechens durchzuführen versuchen müssen, und nach diesem Gesichtspuncte erscheint mir die Logik als reformbedürftig.“ (PRL 179)
Spicker stellt die Frage, ob die Sprache tatsächlich der adäquate Ausdruck für unsere Gefühle und Vorstellungen ist oder nur ein sehr unvollkommenes Mittel für unsere Kundgebungen. Jede Empfindung, jede Vorstellung ist etwas bestimmt Konkretes, während jedes Wort ohne unterschied etwas Allgemeines bezeichne. Er zählt eine Reihe von Ausdrücken auf (Jugend, Heimat, Geschwister, Liebe, Armut, Krankheit usw.), um daran zu zeigen, wie sehr die Vorstellungen, die jeder damit verbindet, verschieden ist von der sprachlichen Bezeichnung. Die vielen verschiedenen Details, die jeder nach seinen Erfahrungen sich dabei vorstellt, sind durch kein Wort zu geben. Da kein Mensch dem anderen völlig gleicht, ist auch die Auffassung des einen von der des anderen in Bezug auf das gleiche Sprachobjekt verschieden. Daraus ergibt sich wiederum, daß Keiner unter dem selben Ausdruck ganz das Gleiche versteht. Die vielen Missverständnisse in den unterschiedlichsten Bereichen beweisen, daß zwar oft jeder dasselbe Wort ausspricht, aber etwas ganz anderes meint.
Die Sprache ist für Spicker nur eine äußerliche Bezeichnung für einen inneren Vorgang. Wobei es gleichgültig ist, was für ein Zeichen oder Wort man dafür wählt. Und haben wir etwas Neues entdeckt – einen neuen Stoff, eine neue Maschine – dann wird eine spezielle Bezeichnung dafür gesucht.
„Insofern dies richtig ist, ist Prantl's Definition von der Sprache als Verwiklichung der Denkkraft im natürlichen Laute nicht ganz zutreffend. Jene hat sich bei der Entdeckung eines neuen Stoffes oder bei der Herstellung einer neuen Maschine schon in ihrem ganzen Wesen geäußert und verwirklicht, ehe die sprachliche Bezeichnung dazu kam. Das Denken geht folglich dem Sprechen voraus.“ (MT 265)
In Analogie auf die frühen primitiven Zustände der Menschheit verweist Spicker auf die Kindheit:
„Das Kind begehrt nach Nahrung, Pflege, und greift nach Gegenständen lange bevor es im Stande ist, die ersten Worte zu stammeln. Es hat somit ein Verständniß und einen bestimmte ausgesprochenen Willen ohne Sprache.“ (ebd.)
[p. 68] Als entscheidenstes Kriterium nennt Spicker die tiefsten Gefühle und Empfindungen, die durch kein Wort zum Ausdruck gebracht werden können. Hier sei ein Blick, eine stumme Bewegung unendlich mehr als jedes Wort. All dies beweist Spicker, dass das Sprechen nicht mit dem Denken Hand in Hand geht, sondern dass das Denken den Sprechen voraus geht und dessen Grundlage bildet.29
Damit hat Spicker alle wesentlichen Ansätze seines Lehrers Prantl kritisiert und als im Wesentlichen nicht zutreffend oder widersprüchlich oder inkonequent erwiesen. Dennoch möchte ich am Ende versuchen, eine Position für Prantl zu skizzieren, da ich meine, daß Spicker dem eigentlichen Anliegen, welches Prantl mit seinem Aufsatz hatte, keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Was Prantl mit seiner Arbeit bezüglich der Logikreform erreichen wollte, faßt er in einem späteren Vortag so zusammen:
„Falls, wie ich an einem anderen Orte zu begründen versuchte, die Logik mit der Lehre vom Urtheile eröffnet wird und die Definition von ihrer so häufigen Verwechslung mit dem Begriffe befreit als Endzweck des Syllogismus den letzten Höhepunkt der Denkformen einnimmt, so wird unweigerlich die 'Form' des Wissens darin bestehen, daß alles uns Zugängliche nach seinem Denkwerthe vom unmittelbaren Urtjeile ausgehend durch die mittelbare Stufe des Begriffes hindurch zur syllogistischen Verknüpfung behufs definitorischer Urtheile, in welchen ein rückvermittelnder Abschluss liegt, durchgeführt wird.“ (PVB 2f)
Die Schwierigkeit der definitorischen Urteile sieht Prantl darin, daß zur Definition irgend eines Begriffes vorher alle benachbarten und gegenüberstehenden Begriffe definitorisch festgelegt sein müssen, was aber wiederum nicht möglich ist, ohne den jetzt zu definierenden Begriff fest zu definieren. Daher kommt er zu dem Schluß,
„[...] dass es dem Menschen nicht gegeben ist, 'simplici mentis intuiti' das Gesamt-Gewebe des Seienden mit all seinen Lineamenten zu erfassen, sondern dass die Wissenschaftslehre (Logik) bis in ihren formellen Höhepunct hinein mit der Vielheitlichkeit der Wahrnehmungen und der Erscheinungen verflochten ist“ (PVB 3).
Das Verstehen, welches zusammen mit der Kritik die Methode wissenschaftlichen Denkens ausmacht, ist auf einer ersten Stufe ein unmittelbares denkendes Erfassen mit einem gleichsam instinktiven Gefühl der Richtigkeit. Man kann damit Verstehen als unmittelbares Erfassen sogenannter aposteriorischer Anschauung und sogenannter apriorischer Begriffe fassen und damit aug jedes ausgesprochene Denken anwenden, gleich, ob es ein sinnliche Empfindung oder eine ideale Vorstellung als Denk-Kundgebung äußert. Als Konsequenz daraus gibt es nach Prantl keine blo- [p. 69] ßen (= unverstandenen oder reinen) Tatsachen, wie manche Empirikier behaupten. Ob das Verstandene in einem weiteren Sinne richtig oder unrichtig, treffend oder schief, allseitig oder einseitig ist, wird dann durch Anwendung der Kritik, erneutes Verstehen und weiterer Kritk geklärt.
Diese Ausführung von Verstehen lehnt Prantl eng an den Begriff der Hermeneutik an und macht ihn für alle Wissenschaft geltend, ob Naturwissenschaft, Mathematik, Geschichte um nur einige Beispiele zu nennen (vgl. PVB 6f)
„In dem verschlungenen Verlaufe aber, durch welchen sie [die Wissenschaft – AH] zu Stande kommt, verbleibt sie im Einzelnen und Ganzen irrthumsfähig und ebenso vervollkommnungsfähig, ersteres, weil jeder Schritt des Verstehens und des Beurtheilens mit der Singularität des forschenden Individuums behaftet ist, und letzteres, weil bei jedem jener Schritte die erforderliche Beiziehung aller betreffenden Momente qualitativ und quantitativ sich steigern lässt.“ (PVB 37)30
Denken ist für Prantl, wie für Spicker, Vorstellungen verbinden, Prädikate auf ein Subjekt beziehen, im letzten also Urteilen. Nun ist für Prantl jeder Satz ein Urteil im logischen Sinn (PRL 190). Das Urteil aber steht „in gewissen Sinne auf dem Standpuncte der thierischen Kundgebung“, will sagen, damit wird etwas gewollt. Spicker bringt die Analogie mit dem Kleinkind, weches Nahrung oder Pflege begehrend oder nach einem Gegenstand greifend Verständnis und Willen kundtut. Das Kind äußert sich dabei vielleicht durch Schreien. Das zumindest gesteht Prantl dem Tier auch noch zu. Beim Menschen sieht Prantl darin schon
„[...] das unmittelbare Auftreten der menschlichen Denk-Begabung [...], welche von dieser ersten Stufe ausgehend ihrer weiteren Vermittlung durch Fixierung und Durchführung der Begriffe harrt. [...] Der Mensch will mit jedem Worte und jeder Rede entweder ein Thuen hervorrufen, sei es aus ihm selbst oder aus einem Neben-Wesen, - und diese Stufe hat er mit den Thieren gemein, denn auch dieses beabsichtigt durch seine Kundgebung das Gleiche -, oder er will ein weiteres Denken hervorrufen, sei es aus ihm selbst oder aus einem Neben-Menschen, - und diese gesteigerte Stufe ist ausschliesslich dem Menschen allein eigen - , oder endlich er will beides zugleich, was klärlich gleichfalls nur beim Menschen vorkommen kann.“ (PRL 193).
Nun ist die Frage, ob denn jeder Satz (und das kann nach Prantl auch ein nur rudimentäres Gebilde sein) ein Urteil sei, wo nach logischer Betrachtung über Wahrheit oder Unwahrheit entschieden werden kann. Aber er will damit nur sagen, dass jeder Satz einer logischen Untersuchung unterzogen werden kann, und nicht selbst schon eine logische Urteilsform sei.
Sind aber desswegen Sprache und Denken schon aneinander gebunden? Ich bezweifle, dass es so etwas wie sprachloses Denken gibt. Immer wenn ich versuche,
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ohne Worte zu denken, gelingt mir das nicht. Spicker erweitert daher in seiner Kritik das Problemfeld:„Denken wäre sonach ein innerliches Sprechen und Sprechen ein lautes Denken. Dies vorausgesetzt, kann freilich keines ohne das andere vorgestellt werden. Läßt sich aber zeigen, daß die Sprache nicht der adäquate Ausdruck ist für unsere Gefühle und Vorstellungen, so wird man zugeben müssen, daß sie in der That nur ein Mittel und zwar ein sehr unvollkommens, unbeholfenes Mittel ist für unsere Kundgebungen.“ (MT 263)
Ich habe damit zwei Probleme: zum einen gesteht Descartes, dem Spicker ja eigentlich zustimmt, den Tieren Vorstellungen und Gefühle zu (sie sind beseelte Maschinen) aber nicht das Denken, so dass die lautliche Kundgabe von Gefühlen und Vorstellungen nicht unbedingt mit Denken in Verbindung zu bringen ist, zum Zweiten weiß ich nicht genau, was ich unter einem „adäquaten Ausdruck“ verstehen soll; über die Angemessenheit eines Ausdrucks denke ich nach, d.h. ich vergleiche (stumm-sprachlich) verschiedene Worte und Urteile (stumm-sprachlich) ob sie mir angemessen erscheinen oder nicht. Ich glaube daher Prantl bis hierher folgen zu können, wenn er für die Reform der Logik fordert, die Lehre vom Urteil an den Anfang zu stellen.
Jedes aus dem Urteil/Satz hervorgehobene und bewußt festgehaltene Wort gilt Prantl für die Logik als Begriff. Mit Hilfe des Sprach-Ausdrucks besitzt der Mensch bereits mehr, als die Einzel-Empfindung, die er ausdrückt. Er kann das Wort wiederholen, es von der Empfindung ablösen und mit einem anderen Wort zusammen aussprechen/denken in einem neuen Satz. Jeder Verbindung von Sätzen, welche in der Rede verschiedene Beziehungen an ein als Begriff erfaßtes Wort knüpft, ist für die Logik ein Schluß.
Ich hatte oben schon angedeutet, daß Prantl dem Teleologie- oder Zweckbegriff skeptisch bis ablehnend gegenüber steht. Das folgende Zitat mag dafür zeugen:
"Sagt man aber, der Zweckbegriff könne bei Naturbetrachtung doch schliesslich nicht entbehrt werden, so darf man vor keiner Consequenz der üblichen Auffassung dieses Begriffes zurückschrecken, sondern es muss die teleologische Frage an jeden Thatbestand und jedes Geschehen geknüpft werde; aber es wäre wahrlich kein Ende der Beispiele zu finden, an welchen sich die Unzulässigkeit dieser Frage ebenso zeigt, wie z.B. bezüglich der Zahl der Planeten und der Nebenplaneten oder betreffs der bekanntlich nicht sehr vollkommenen Einrichtung des menschlichen Auges; und jedenfalls dürfte nicht, wie immer beliebt wird, eine Auswahl getroffen werden, insoferne man nur dasjenige, was uns erfreulich oder zweckdienlich oder wenigstens nicht nachtheilig ist, teleolo- [p. 71] gisch erklärt, aber bei entsetzlichen Naturereignissen weislich von einem Zwecke schweigt. Auch sollte z.B. der Botaniker nicht sagen, dass gewisse Pflanzen darum brillante Blüthen haben, damit die Insecten hiedurch angelockt die Geschlechtsfunction der männlichen Organe unterstützen; denn abgesehen von der vorwitzigen Frage, warum nicht alle Pflanzen in solcher Weise begnadigt wurden, müsste z.B. folgerichtig der Zoologe sagen, dass die Spinnen darum ein (angeblich) so grusliches Aussehen habe, damit sie nicht von den Alles verzehrenden Menschen gegessen werden.“ (PCF 134)
Für Prantl ist es ausschließlich der Mensch, der auf Grund seines Zeitsinnes über den konkreten Augenblick hinausgreifend in die Zukunft gerichtete Zwecke setzen kann. Daher findet er es „geradezu lächerlich“ zu behaupten, daß mit der Ablehnung einer teleologischen Naturbetrachtung keinerlei Ethik mehr möglich sei. Prantl kann daher auf eine anthropomorph gedachte Naturteleologie verzichten, ohne den für die Philosophie unentbehrlichen Idealismus aufzugeben (vgl. PCF 134f)
Spicker stellt nicht in Frage, ob es Evolution gibt oder nicht. Seine Frage ist, ob (und wie) man Evolution erklären kann ohne Teleologie und ohne Metaphysik. Beides hielt er für nötig, um sein Fundament wieder zu finden, die „fürchterliche Öde“ in seinem Herzen zu überwinden. Spickers Kritik an seinem Lehrer ist radikal und für einen Logiker im Grunde vernichtend: In den für seine Theorie grundlegenden Annahmen weist ihm sein Schüler Schwanken und Widersprüche nach.
Aber auch zu dieser Kritik sind Voraussetzungen nötig. In wesentlichen Punkten haben Spicker und Prantl verschiedene Ansichten:
Prantl war nie und wollte nie ein Materialist sein. Der diesbezügliche Vorwurf Spickers scheint also nicht gerechtfertigt31. Spickers Ziel war der Nachweis, daß eine Anthropologie, die nicht materialistisch ist, nicht aus einer empirisch-rationalen Philosophie abgeleitet werden kann.32 Spicker sieht den entscheidenen Unterschied zwischen Mensch und Tier in des Menschen religiöser Funktion, die das Tier nicht hat. Erst hierdurch wird der Mensch zu einem Transzendentalen Wesen (vgl. UV 154).
Daß Ideales sich „entwickeln“ kann ist hingegen die Überzeugung Prantls, der von daher auch den Menschen für zumindest fähig zu Religion hält. Der Unterschied scheint mir darin zu liegen, daß Prantl offener und freier damit umgehen konnte, daß absolut festes und sicheres Wissen für die Wissenschaft (noch) nicht zu erreichen ist. Damit sind aber auch unterschiedliche Vorstellungen vom Menschen möglich.
Was von Spicker als Hylozoismus kritisiert wurde, entspricht in neuerer Zeit dem, was der lange in Münster lebende Zoologe Berhard Rensch (1900-1990) mit seinem Ansatz einer „protopsychischen Materie“ versuchte. Aber auch hier kann man mit Ruschmeier festhalten, daß dieser Ansatz eher „Ausdruck, nicht aber Lösung der in dieser Frage angedeuteten Problematik“ ist.33
Ich möchte schließen mit einem Zitat, das mir – wie der Spruch an Beginn dieses Aufsatzes – zeigt, daß die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier, von Geist und Materie, noch nicht gelöst ist, aber immer als als Lösung aufgegeben ist.
1910 schrieb ein gerade zum Arzt approbierter Autor einen kurzen Aufsatz, in dem er die Reichweite der modernen Hirnforschung mit folgenden Worten auf den Punkt brachte:
„Was die Resultate in ihrer Gesamtheit bedeuten, war mehr als ein völlig neue Erkenntnis von der Bedeutung der nervösen Organe; vielmehr handelte es sich um dies: man hat an Geweben des Körpers experimentiert und hatte Reaktionen bekommen aus dem Gebiet des Seelischen; man hatte sich während der Arbeit mitten im Bereich der Physiologie dem Psychischen gegenübergesehen; man war an eine Stelle gekommen, da waren die beiden Lebensbereiche zusammengeknotet und man konnte von hier aus sich in das dunkle rätselhafte Reich des Psychischen tasten. und damit stand man vor etwas unerhört Neuem in der Geschichte der Wissenschaften: das Psychische, das Pneuma, das Über- und Außerhalb der Dinge, das Unfassbare schlechthin ward Fleisch und wohnte unter uns.“ (Benn 1987, 8f.).
Dieser Arzt war übrigens Gottfried Benn (1886-1956), ein Schüler Theodor Ziehens, der dann später durch sein literarisches Schaffen bekannt wurde.
Die Internet-Fassung wurde leicht gekürzt. Das Verzeichnis der Literatur und die fehlenden Anmerkungen finden Sie in der Printausgabe. Auf Wunsch kann ich sie Ihnen auch zusenden, wenn Sie mir schreiben ziehen@stork-herbst.de
Spicker und Darwin aus: "Geschichte, Entwicklung, Offenbarung. Gideon Spickers Geschichtsphilosophie." Herausgegeben von Harald Schwaetzer und Christian Schweizer. Regensburg 2005. 41-74.