leicht gekürzte Vorausfassung. Aus: "Soziale Gerechtigkeit" Zur Würdigung Paul Jostocks. [ 5. Köwericher Akademische Tage; 21.–24. April 2005 in Köwerich] Herausgegeben von Henrieke Stahl und Harald Schwaetzer. Im Druck.
Was das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft betrifft, so ist für Paul Jostock klar ersichtlich, dass der Mensch nicht für und aus sich allein leben kann. Er benötigt die Anderen als Vorbedingung seines eigenen Lebens, zur Befruchtung seiner Arbeit, zum Schutz seiner Habe. Aber das Verhältnis zwischen individueller Freiheit und kollektiver Bindung kann, wie er feststellt, "in vielfacher Abstufung mehr zu Gunsten des einzelnen oder zu Gunsten der Gesamtheit geregelt sein."[1]
Diese Abstufungen bestimmen sich nach Jostock durch die Kulturstufe, die Siedlungsdichte und den Grad der Arbeitsteilung, wobei letztlich Ideen im Hintergrund stehen. Daher stellt er fest:
"Hinter solchen Wandlungen stehen als bewegende Kräfte soziale Ideen oder Ideologien und nicht selten auch die vitalen Interessen von Klassen und anderen Gruppen. Die Auffassungen der Menschen vom sozialen Leben ändern sich, und das bewirkt schließlich eine Änderung der sozialen Zustände. Es ist also im letzten die Philosophie und Weltanschauung, die über das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft entscheidet. Je nach der Auffassung vom Menschen selbst, seinem Wesen und seinem Ziel formt sich das Bild der Gemeinschaft, zunächst in der Idee und dann auch in der Wirklichkeit."[2]
Jostock spricht hier von Wandlungen, die die Auffassungen der Menschen durchmachen. Dem möchte ich in meinem Vortrag nachgehen. Einmal am Beispiel sich wandelnder Menschen- und/oder Gesellschaftsbilder, zum anderen am Wandel von Wertauffassungen.
Weiter ist bei Jostock nicht nur die Gemeinschaft wichtig: er betont ebenso den Eigenwert des Menschen als Individuum und Person, die sich erst mit Hilfe der Gemeinschaft entfalten könne. Daher gilt für ihn:
"Wenn andererseits jeder Mensch Eigenwert und Eigenziel besitzt, widerspricht es seiner Natur, ganz in der Gemeinschaft aufzugehen und nur [p. 10] Baustein eines sozialen Ganzen zu sein. Mag nun das Verhältnis zwischen Individual und Sozialsphäre in der Geschichte auch noch so schwanken, so liegt ihm doch zweifellos eine Art Naturgesetz oder doch eine Norm zu Grunde, die aus dem Wesen des Menschen ableitbar sind. Es muß ein richtiges oder bestgestaltetes Verhältnis geben, das wenigstens theoretisch bestimmbar ist, selbst wenn seine praktische Verwirklichung noch so schwierig und selten erreichbar sein sollte."[3]
Ausgehend von diesem Zitat: es muss ein wenigstens theoretisch bestimmbares richtiges oder bestgestaltetes Verhältnis geben - möchte ich meine These ent-wickeln: Die theoretischen Überlegungen führen in eine Aporie. Dies aber muss nichts Lähmendes sein, sondern kann sogar befruchtend und anregend sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft sein.
Ich möchte zunächst, um die von Jostock thematisierten Wandlungen in den Blick zu nehmen, kurz auf das von ihm verwendete Organismus-Bild eingehen, mit dessen Hilfe er seine Aussagen über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft begründet. Damit steht Jostock, wie er zu recht betont, ganz auf dem Boden traditioneller katholischer Lehre, wie zum Beispiel ein Blick in das von Krings herausgegebene "Handbuch Theologischer Grundbegriffe" von 1970 belegt.[4]
Platon ist wohl der erste, der in seiner "Politeia" politiktheoretische Überlegungen mit der Hilfe von methodisch begründeten Analogien psychologischer und physiologischer Art vorträgt[5]. Im "Timaios" schließlich verschmelzen die verschiedenen Leitbilder platonischen Philosophierens: der schöne und vollkommene Kosmos, die tugendhafte Seele, der gesunde Körper und die gerechte Polis, sie alle werden mit der Metapher des Organismus verbunden.
Aristoteles kritisiert an dem Entwurf seines Lehrers dessen überzogenen Einheitsgedanken, weil eine überzogene Gleichheit der Bürger die Polis als Struktur auflöse:
"Es ist doch aber klar, daß ein Staat, der immer mehr eins wird, schließlich gar kein Staat mehr ist. Seiner Natur nach ist er eine Vielheit. Wird er immer mehr eins, so wird aus dem Staat ein Haus und aus dem Haus ein einzelner [p. 11] Mensch. Denn wir dürfen wohl sagen, dass ein Haus mehr eins ist als ein Staat, und eine einzelner Mensch noch mehr als ein Haus. Auch wenn man also diese Einheit herstellen könnte, dürfte man es nicht. Denn man würde den Staat überhaupt aufheben."[6]
Aristoteles geht von dem Grundgedanken aus, dass die Struktur der Polis eine Einheit von Verschiedenen sei. Er kennt eine ganze Reihe von Herrschaftsbeziehungen in allen möglichen Bereichen: in der Seele, im Lebenwesen, in der Familie, im Haus, in der Stadt. Es gibt überall dort jeweils zusammengesetzte Einheiten, deren Elemente aufeinander bezogen sind; und zwar durch Zwecke. So wie der Sklave seine Bestimmung als Werkzeug oder "Organ" des Herrn verwirklicht, so verwirklicht dieser als Bürger seine Bestimmung im Bereich der Polis.
Umgekehrt fällt in den naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles auf, wie stark dort mit Begriffen und Analogien aus dem politischen Bereich gearbeitet wird: das Herz bekommt die zentrale Stellung einer Akropolis und die Konstitution eines gesunden Lebewesens vergleicht er mit einer wohl eingerichteten Stadt, die keines Monarchen bedürfe.[7]
Olaf Breidbach macht darauf aufmerksam, dass schon in Aristoteles' Bewegungslehre und Tierkunde als Ideal eines lebendigen Körpers "eine in sich geschlossene, nicht in einzelne, separierbare Kausalketten zu fassende Reaktionsschichtung des Lebewesens"[8] dargestellt ist. Zu Grunde liegt dabei eine gewisse holistische oder ganzheitliche Vorstellung. Das Ganze des Organismus steht dabei im Gegensatz zu einem Aggregat, einer einfachen (An-)Sammlung. Dieses Aggregat ist bloß die Summe der selbständig existierende Teile, während der Organismus ein Ganzes bezeichnet, in dem die Teile durch ihren Ort [p. 12] im Ganzen und ihre Funktion für das Ganze bestimmt sind. Das Ganze und die Teile sind füreinander Zweck und Mittel.
Oft wird dann auch noch zwischen organischen und rationalen Ganzheiten unterschieden, wobei der Organismus so gedacht wird, dass er seinen Zweck (Telos), den er - sich selbst steuernd - zu realisieren sucht, in sich trägt. Diese Vorstellung wird auch auf Institutionen, Staaten oder historische Entwicklungen angewendet.
Auch Jostock bemüht diesen Vergleich, wobei er nachdrücklich darauf hinweist, dass der Staat nicht als ein wirklicher Organismus im biologischen Sinn zu verstehen sei, sondern das Bild des Organismus hier "nur analog" angewendet werden darf. Bei ihm liest sich das so:
"So wie der Organismus nicht eine mechanische Masse oder Summierung von Teilen, sondern eine von innen heraus zweckbestimmte (teleologische) Lebenseinheit, ein aus verschiedenen Teilen gliedmäßig zusammengesetztes Ganzes darstellt, das von einem einheitlichen Lebensprinzip durchpulst ist, so ist der Staat nicht gleich der Summe der einzelnen, sondern bildet ein gegliedertes Ganzes, das aus der Zielsetzung 'Gemeinwohl' Dasein, Aufbau und Lebensgesetz empfängt."[9]
Der Staat hat dabei fast gleiche Züge wie die Gemeinschaft. So zählt Jostock vier Ähnlichkeiten zwischen dem sozialphilosophischen und dem naturwissenschaftlichen Organismusbegriff auf:
Betrachtet man nun das Ganze (d. h. hier: den Staat) vom Standpunkt der einzelnen Glieder aus, dann gibt dieser Vergleich, die Analogie ein "Vorbild" dafür, wie der Staat aussehen und funktionieren soll. (vgl. 53)
Jostock spricht hier zwar von Organismus-Theorie, aber es gibt genügend Anhaltspunkte dafür, dass die Organismus-Rede als Analogie, als Metapher gemeint ist: Ganz deutlich wird es dort, wo er zwischen sozialem oder moralischem und physikalischem Organismus unterscheidet (51) und damit den Staat einer anderen Seinsordnung zuordnet. Er spricht dort von einem "philosophischen Begriff des Organischen".
[p. 13] Die Organismus-Metapher suggeriert das Bild von der vollkommenen Harmonie, die - zumindest im gesunden Organismus - zwischen allen Gliedern herrscht. Für Jostock zeigt sich das darin, dass kein Glied auf Kosten der anderen bevorzugt wird, sowohl bei der Zuteilung der Nahrung, bei der Förderung, die ihm zukommt, wie an der Belastung, die ihm zugemutet wird. Er bekommt genau das, "was ihm nach seiner Bedeutung in dem Ganzen zusteht" (53).
Dies ist die Zielvorstellung. Die Realität des Staates in der Geschichte zeigt: "Bedrückung der Bauern durch die Feudalherren", "jahrhundertelange Steuerbefreiung oder Steuerbegünstigung der Mächtigen und Reichen", eine ungerechte "Eigentumsverteilung in unseren heutigen Industrieländern".
Ich glaube nicht, dass das Organismus-Modell dazu geeignet ist, die Vorstellungen von Individualität zu entwickeln, die dem Einzelnen gerecht werden: grundsätzlich ist in dieser Vorstellung jede Entität von der Ganzheit des Organismus bestimmt und es ist nicht aussagbar, was da noch individuelles sein kann oder sein soll - ausser etwas störendes, krankhaftes.
Ich möchte für die weiteren Überlegungen einen Bogen schlagen zu einer Diskussion, die etwas seit Ende der siebziger / Beginn der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Aufmerksamkeit gefunden hat: die Diskussion um den Kommunitarismus. Ausgangspunkt für die Diskussion war in aller Regel die Frage nach der Gerechtigkeit in der bestehenden Gesellschaft. Gemeinwohl und Gemeinsinn wird zunehmend als bedroht erfahren von einer zunehmenden Individualisierung. Diese wird gesehen als eine Gefahr für die bestehende Gesellschaft.[10]
"Kommunitarismus" (lat. communitas) kommt erst in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf. Es gibt verschiedene Vorläufer in der philosophischen Tradition, bei denen sich unter anderem folgende Kennzeichen aufweisen lassen:
usw
Wenn Jostock ebenfalls im Individualismus und im Liberalismus mit seiner
potenzielle Gefährdungen des Zusammenlebens wahrnimmt, gibt es hier augenscheinlich Parallelitäten.
Auf dem 3. Köwericher Symposion zum Thema: "Der Traum Europas", machte Norbert Herold in seinem Beitrag auf den Kanadischen Philosophen Charles Taylor aufmerksam[11]. Taylor, ein ausgewiesener Hegel-Kenner, schrieb unter anderen Bücher wie "Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität"; "Das Unbehagen in der Moderne"; "Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus".
Taylor sieht, und darauf machte Herold aufmerksam, hinter den neuen individualistischen Verhaltensmustern durchaus moralische Ideale: Hinter dem Streben nach Authentizität entdeckt er die Vorstellung einer Verpflichtung: ich bin einmalig, ein unersetzliches und unverwechselbares Original: ich muss also etwas aus meinem Leben machen, mich selbst verwirklichen, sonst bleibt es sinnlos und unerfüllt. Es kann sogar sein, dass ich gegen Regeln der Gesellschaft und der anerkannten Moral verstoßen muss um dieser meiner Authentizität willen. Dazu kommt aber oft noch die andere Seite des Authentizitätsideals: richtig verstandene Individualität setzt die Einbeziehung der anderen Voraus, ist dialogisch angelegt und sie verlangt ein Gefühl für das, was wichtig ist und Wert hat, dafür mit meiner Person einzustehen[12]. Damit könnte Taylor uns helfen, nicht überall als Kulturpessimisten nur moralischen Niedergang zu vermuten.[13]> [p. 15]
Taylor also versucht zu zeigen, wie unsere Vorstellung vom Guten unser ganzes Selbstverständnis durchdringt[14]. Ausgangspunkt für seine Überlegungen ist das, was er "starke Wertungen" nennt.[15] Was er damit meint, will ich im Folgen verdeutlichen:
Nach Harry Frankfurt hat der menschliche Wille eine Besonderheit, die ihn eindeutig von anderen Geschöpfen unterscheidet: Wir können Wünsche haben, die sich auf unsere Wünsche richten. Wir können den Wunsch haben, einen Wunsch zu haben oder nicht zu haben. Wir können den Wunsch haben, dass einer unserer Wünsche so stark ist, dass er unseren Willen bewegt.[16]
An diese Gedanken knüpft Taylor an: Es gibt Situationen, wo wir zwischen Wünschen wählen müssen, die alle gleich legitim erscheinen. Wir können also Wünsche, die wir haben, bewerten.
Ich habe Hunger, also den Wunsch, etwas zu essen, wünsche mir aber, dass dieser Wunsch nicht zu stark wird, da ich noch meinen Vortrag zu Ende bringen möchte.
Es kann nun passieren, dass ich in mir den Wunsch entdecke, jemandem den Hals um zu drehen, da er mich mit seinem Gebaren in der Konzentration auf meinen Vortrag stört. Diesen Wunsch lehne ich ab, weil ich ihn für inakzeptabel halte. Es gibt also Wünsche, die nicht nur nach pragmatischen Gesichtspunkten entscheidbar sind. Diese Wünsche werden von Gefühlen der Empörung, der Großartigkeit, der Scham, der Schuld, der Bewunderung begleitet sind. Dies nennt Taylor "starke Wertungen".
In Anlehnung an Max Scheler geht Taylor davon aus, dass unsere moralischen Gefühle nicht nur ihren affektiven Charakter haben, sondern auch einen kognitiven. Das Subjekt erfährt diese "starken Wertungen" als unabhängig gegeben, und nicht als eigene Setzungen. Und dieses als gegeben Erfahrene lässt sich einerseits mit Gründen verteidigen, andererseits erfordert es Achtung.
Diese Gefühle sind der emotionale Ausdruck dafür, dass wir Maßstäbe für unsere Wünsche anerkennen, die wir an die Wünsche anlegen, obwohl wir manchmal von diesen Maßstäben frei sein wollen oder uns nicht bewusst sind, dass wir diese Maßstäbe haben.
[p. 16] Wir erleben immer wieder eine Spannung, eine Kluft zwischen unseren moralischen Gefühlen auf der einen Seite und den reflektierten Werten andererseits. Um diese Kluft zu überwinden, bedienen wir uns der Artikulation unserer Gefühle, um sie so in eine diskussionsfähige Form zu bringen. Die Artikulation unserer moralischen Gefühle hat nach Taylor die Gestalt eines hermeneutischen Zirkels, bei dem wir uns zwischen mehreren Ebenen hin und her bewegen:
Mitunter ist es für uns schwierig oder unmöglich, unsere Gefühle mit Hilfe des angebotenen Repertoires aus Begriffen, Bildern oder Vorstellungen zu artikulieren. Dann kann es sein, dass wir Deutungsangebote anderer Kulturen hinzuziehen oder gar neue Formen erfinden. So kann hier Neues entstehen.
Stellen Sie sich zum Beispiel Angehörige einer diskriminierten ethnische Minderheit vor. Das komplexe Zusammenwirken von kultureller Zuschreibung von Minderwertigkeit, dem möglichen Minderwertigkeitsgefühl der Betroffenen, wenn sie sich diese Beschreibung zu eigen machen, dem Wandel dieser Gefühle in Resignation oder Trotz; die eventuelle Mobilisierung von Widerstand gegen die diskriminierende Kultur werden so verstehbar.
Die Diskussion unserer Gefühle kann in einer Bestätigung, einer Modifikation oder in einer Ablehnung unserer Gefühle enden:
Schaut man sich die Ergebnisse nochmals an, dann kann man sehen: Hier begegnen sich Individuum und Gesellschaft in verschiedener Weise:
Bestätigung und Modifikation zeigen eher in Richtung von der Gesellschaft auf das Individuum. Der Einzelne - aber auch eine Gruppe, Verbindung, Gemeinschaft - erfährt die Gemeinschaft als bestätigend oder als Hilfe bietend für [p. 17] seinen/ihren eigenen Zwecke der Orientierung und im Umgang mit den Gefühlen der "starken Wertung", sprich: den Werten.
Die Ablehnung hingegen zeigt mehr in die Richtung vom Individuum in/auf die Gesellschaft.
Verdrängung birgt die Gefahr des Ausschlusses (aktiv wie passiv): ich fühle mich ausgeschlossen - weil nicht verstanden, abgelehnt...; ich werde Ausgeschlossen als Außenseiter, diskriminierte Minderheit.
Der Reflexionsprozess zielt einmal
Beispiele? Die Welt ist voll davon. Jetzt z.B. aktuell - das Verhältnis von Christen zu
- Christen (Abendmahl, Rolle der Frau, Schwangeren-Beratung ...
- Muslimen (Aufnahme der Türkei in die EU)[17]
Oft zeigt sich in den Diskussionen aber keine einheitliche Lösung ab, da die Argumente sich gegenseitig aufzuheben oder auszuschließen scheinen. Und es kann dann schon der oben erwähnte Eindruck entstehen, es gäbe nur noch Wandel und Differenzierung und keine einheitliche Linie mehr.[18] An einem Beispiel aus der Medizinischen Ethik möchte ich daher ermutigen zum Leben mit der Aporie.
Es gibt eine Diskussion in der Medizinischen Ethik, die ich hier als Beispiel vorstellen möchte, wie man trotz Aporie - Ausweglosigkeit - in die man mit der [p. 18] rationalen Diskussion gerät, sowohl zum Wohl des Individuum als auch dem der Gesellschaft handeln kann:
Zwischen dem ärztlichen Handeln und dem Handeln als Forscher/Versuchsleiter gibt es folgende Beziehungen hinsichtlich der Merkmale Ziel, Methode, Ausgang und Nutznießer des Handelns:
ärztl. Handeln | klinischer Versuch | |
---|---|---|
Ziel: | Wohl des Patienten | Gewinn von Erkenntnis |
Methode: | Heilbehandlung | Experiment / klinische Studie |
Ausgang: | ungewiss | ungewiss |
Nutznießer: | Individuum = Patient |
Gesellschaft = Ärzte/Forscher + künftige Patienten |
Als die Standard-Methode der Klinischen Forschung gilt die "randomisierte Doppelblindstudie", die Wiesing / Marckmann wie folgt beschreiben:
"Bei einer randomisierten Doppelblindstudie werden mindestens zwei Patientengruppen miteinander verglichen, die sich bis auf die Behandlung nicht unterscheiden. Die Zuordnung zur Gruppe der behandelten Patienten und der Kontrollgruppe, die eine andere oder eine Placebobehandlung bekommt, erfolgt zufällig (randomisiert). Diese Zuordnung kennen weder der Patient (einfachblinder Versuch) noch der Arzt (doppeltblinder Versuch). Letzteres wird gewählt, um die Ergebnisse nicht durch Suggestion zu verzerren."[19]
Diese Methodik nimmt billigend in Kauf, dass zumindest eine Gruppe von Patienten einer nicht-optimalen Behandlung ausgesetzt wird und unter Umständen auch einem größeren Risiko unterliegt. Das muss die Studie tun, weil je zwischen den beiden Gruppen ein signifikanter Unterschied sein muss. Für welche Gruppe das gilt, weiss man nicht - dass soll ja die Untersuchung erst zeigen, ist mit anderen Worten ihr Legitimierungsgrund. Gleichzeitig widerspricht aber das Eingehen dieses Risikos der ärztlichen Verpflichtung, dem Patienten nicht zu schaden. Zudem: Während der Arzt gerade auf das Individuelle des Patienten reagiert und im Einzelfall Hilfe leistet, strebt der Forscher nach allgemeiner Erkenntnis über die Gruppe und muss daher das Individuelle ausschließen.
Also Verzichtet man auf die Forschung? Will der Arzt bei seinem Patienten in Diagnose und Therapie begründet Handeln, ist er auf gesicherte Erkenntnise angewiesen: also ist er auf die Forschung angewiesen.
Dieses Beispiel ist in der Einschätzung von Wiesing / Marckmann praktisch, konkret und relevant.[20] Und der Medizinhistoriker Richard Toellner hat die Aporie auf folgende Formulierung gebracht: [p. 19]
"Die ethische Aporie heißt dann, auf einen kurzen Nenner gebracht: es ist unethisch, eine Therapie anzuwenden, deren Sicherheit und Wirksamkeit nicht wissenschaftlich geprüft ist; es ist aber auch unethisch, die Wirksamkeit wissenschaftlich zu prüfen."[21]
und er hält diesen Konflikt für unaufhebbar, da sich letztlich die Normen ärztlichen Handelns und die wissenschaftlichen Handelns entweder ausschließen oder gegenseitig einschränken.
Dieser Konflikt ist also nicht zu lösen in dem Sinne, dass eine ein-für-alle-mal-Aussage gemacht werden kann. Man kann diesen Konflikt nur regeln, was heißen soll: es werden Bedingungen entwickelt, die akzeptabel erscheinen - und die immer wieder neu überprüft werden müssen. Die Medizingeschichte belegt, dass seit den Nürnberger Ärzteprozessen die 1947 in einer Urteilsbegründung formulierten Bedingungen für die Durchführung von Versuchen am Menschen - in der Folgezeit als "Nürnberger Kodex" bezeichnet - solche Bedingungen mehrfach fixiert worden sind.[22]
Die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft lässt sich nicht immer und allgemeingültig immer weniger beantworten. Ich bin der Auffassung, dass sie letztlich in die Aporie führt und nur immer jeweils gültige Antworten zulässt. Ich glaube, dass auch Jostock das so gesehen hat. Denn seine Ausrichtung am Solidarismus, den Prinzip der Solidarität zwischen den Extremen wird von ihm immer wieder als Ideal vorgestellt.
So sieht Jostock den Grundgedanken des Solidarismus in folgender Formel ausgedrückt: "So viel Freiheit wie notwendig, so viel Bindung wie notwendig". Er bezeichnet diesen gar als "zunächst für unser Zeitalter, aber schließlich auch für andere Zeiten geradezu [als - AH] eine ideale Regel."[23]
Auch wenn Jostock wenig später die Gefahr sieht, dass dem Solidarismus - je nach zeitlichem Wandel der Anschauungen - vorgeworfen würde, die Gemeinschaft über zu betonen und dem Staatssozialismus den Weg zu bahnen oder dass man ihn andererseits gleich des Liberalismus bezichtige[24], dann spricht das für ein Ideal, um welches immer gerungen werden muss in Abhängigkeit von den gegebenen Zeitumständen.[25]>
[p. 20} Diese "idealen Regeln" bedürfen der andauernden Reflexion und Überprüfung. Es gibt keine endgültige Lösung der Spannung, sondern allenfalls Regelungen. Aber ich sehe drin auch eine Chance: die Chance auf neue Herausforderungen Antworten zu finden, die nicht die Tradition abscheiden oder stumpf fortführen, sondern sie Entwickeln - im Dialog. Zum Dialogismus als einem der Grundstränge der Köwericher Akademischen Tage seit 1998 sei hier nur kurz hingewiesen. Harald Schwaetzer hat ein kurze orientierende Zusammenfassung von bis dahin Erörtertem auf dem 3. Symposion gegeben.[26]
In seinem Vortrag stellte Norbert Herold auf den gleichen Symposion Bedingungen vor, unter denen einem in Konfliktfällen getroffenen Konsens ein moralischer Wert zugesprochen werden kann:
Dann fährt Herold fort:
"Legt man diese Kriterien der Betrachtung früheren oder vom Geist der Modernisierung weniger betroffenen Gesellschaften zugrunde, so erweist sich sehr schnell, dass die bewunderte Einhelligkeit häufig das Resultat von Alternativlosigkeit oder Zwang war. Bei genauerem Zusehen dürfte sich im übrigen zeigen, dass auch frühere Gesellschaften erheblich mehr unter Konflikten und moralischem Dissens gelitten haben, als unser verklärender Rückblick das wahrhaben will. Der moralische Dissens, mit dem die Mitglieder modernerer Gesellschaften leben müssen, ist also nicht Indiz eines moralischen Niedergangs in der Moderne. Nüchtern betrachtet erweist er sich 'zunächst [...] als ein Ausdruck gewachsener Freiheit'. [...] dieser Hinweis gibt uns den Blick dafür zurück, dass die Möglichkeit zum Dissens durchaus als 'Errungenschaft' betrachtet werden sollte."[27]
Vielleicht sollten wir ein Stück so leben, wie die Stachelschweine, von denen es bei Schopenhauer heißt:
"Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertag recht nahe zusammen, um, durch die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammen brachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung von einander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten. - So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder von einander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: keep your distance! - Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden."[28]
Mir rät jetzt die Höflichkeit der Stachelschweine, Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit zu danken.
Die Internet-Fassung wurde leicht gekürzt. Das Verzeichnis der Literatur und die fehlenden Anmerkungen finden Sie in der Printausgabe. Auf Wunsch kann ich sie Ihnen auch zusenden, wenn Sie mir schreiben ziehen@stork-herbst.de
Individuum und Gesellschaft aus: "Soziale Gerechtigkeit"
Zur Würdigung Paul Jostocks. [
5. Köwericher Akademische Tage;
21.–24. April 2005 in Köwerich]
Herausgegeben von Henrieke Stahl und Harald Schwaetzer. Im Druck.