leicht gekürzt aus: AISTHESIS. Die Wahrnehmung des Menschen. Gottessinn. Menschensinn. Kunstsinn. Ein interdiszipliniertes Symposion herausgegeben von Harald Schwaetzer und Henrieke Stahl-Schwaetzer. (Philosophie Interdisziplinär Band 1) Regensburg: S. Roderer Verlag 1999. S. 213-229
Dieser provokante Titel bedarf einer näheren Rechtfertigung: Wenn ich im Folgenden von und über Ethik spreche, ziele ich nicht auf eine Diskussion ethischer Inhalte. Mein Fragen ist begrenzt auf das Problem der Möglichkeit von Begründung(en) von Ethik, und hier zunächst auch wiederum auf die Suche nach einem methodischen Ansatzpunkt. Mir geht es also nicht um den Entwurf oder die Kritik einer umfassenden Ethik für alle, Anstoß nimmt mein Fragen an dem in seiner Bescheidenheit dennoch so anspruchsvollen Satz des delphischen Orakels: (nosce te ipsum in der lateinischen Wendung oder "Erkenne dich selbst"). Wird hier Selbsterkenntnis verstanden als Grundlage des Wissens, der Weisheit, der Ethik? Steht hier Selbsterkenntnis als Grundlage für ein geglücktes oder glückliches Leben?
Ich möchte in meinem Aufsatz plädieren für einen - im methodischen Sinne Ziehens und Carnaps - "solipsistischen" Ausgangspunkt für Ethik, als welchen ich das "Erkenne dich selbst" verstehe. Zugleich möchte ich - wenigstens andeutungsweise - aufzeigen, warum ich diesen Weg für neutral gegenüber der Frage des Determinismus halte. Dazu werde ich ausgehend von Ziehens "epigenetischen Parallelgesetzen", als welche er die neben den und aus den Kausalgesetzten heraus sich entwickelnden Kultur-Gesetzte ansah. Die Überlegungen Gernot Böhme's zur "sprachlichen Verfaßtheit der Wirklichkeit" greife ich dann auf, da sie mir als theoretische Grundlage für meine Auffassung des "narrativen" Modells der Ich- und Selbstkonstitution Paul Ricœur's dienen. Ein kurzer Aufweis der Chancen, aber auch der Grenzen dieses Modells führen mich dann zu meinem Plädoyer für einen methodisch zu verstehenden Ansatz einer solipsistischen Begründung von Ethik.
Das Problem des Determinismus oder Indeterminismus ist auch für die heutige Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen der Willensfreiheit nicht abschließend beantwortet. Daß aber auch ein erklärter Determinist einiges über Ethik sagen kann, hat Ilona Ruschmeier in Ihrem Aufsatz L'homme machine! (1998) [P214] dargestellt(1). Sie ging dabei aus von dem Münsteraner Biologen und Philosophen Bernhad Rensch (1900-1990). Für ihn waren moralische und ethische Normen und Werte, die er durch Erziehung und das soziale Zusammenleben geprägt sah, durchaus als Determinanten des praktischen Lebens verstehbar (vgl. Ruschmeier 1998, 85f). Im Nachdenken über die Konsequenzen des Determinismus, resümiert Ruschmeier:
Aber auch die Kehrseite bringt sie zur Sprache: "Wenn niemand mehr für das Böse in dieser Welt verantwortlich ist, dann aber auch niemand mehr für das Gute." (ebd), und damit würden die " Freiheit voraussetzenden Phänomene wie Liebe, Dankbarkeit, Bewunderung usw." (ebd) zerstört.
Rensch war nun, was einen großen Teil seiner Philosophie anging, Schüler von Theodor Ziehen, wozu er sich im übrigen auch immer wieder bekannt hat. Und seine Suche nach einem umfassenden, einheitlichen Weltbild findet sich eben auch schon bei seinem Lehrer.
Theodor Ziehen (1862-1950)(2) steht mit seiner Konzeption von Kausalität (und damit auch von Determinismus) letztlich in der Tradition Humes, der zufolge die Aussage, daß das eine Ereignis die Ursache des anderen sei, gleich der Behauptung sei, daß beide Ereignisse regelmäßig auseinander folgten. Sind wir von der Regelmäßigkeit so fest überzeugt, daß wir keine Ausnahme davon erwarten, nennen wir sie nach Ziehen Gesetz. Diese Regelmäßigkeiten sind uns aber nicht so ohne weiteres "gegeben", sondern wir müssen, um zu ihnen zu gelangen, Reduktionen betreiben: So verzichtet das Fallgesetz der Physik - einer Anekdote nach an einem vom Baum stürzenden Apfel entwickelt - auf des Apfels braune [P215] Farbe, seinen fauligen Geruch, bitteren Geschmack usw. Alles dies zusammen aber ist das, was uns "gegeben" ist.
Ziehen geht in seinem Konzept aus von diesem Gegebenen. Darunter faßt er ungeordnet und unstrukturiert alles, was wir sehen, empfinden, fühlen usw. Umgangssprachlich: alle unsere Empfindungen und Vorstellungen oder kurz: das Psychische. Zu diesem "Psychischen" gehört aber für Ziehen auch das "Materielle", denn den Apfel, den ich "sehe", "rieche" oder "fühle", habe ich, wenn ich es recht bedenke, nur "psychisch"(3). Die grundlegende Aufgabe der Erkenntnistheorie sieht Ziehen nun darin, Erklärungsmöglichkeiten dafür zu finden, wie wir dieses "Gegebene" so Einteilen können - z.B. in Psychisches und Materielles, in Vorstellungen und Empfindungen usw. - daß sich daraus ein alles umfassendes und in sich widerspruchsfreies Weltbild erstellen läßt. Zu diesem Weltbild gehören also nicht nur die "Sinnesdaten" wie im Sensualismus, sondern der Philosoph wir sich nach Ziehen mühen
Wissenschaftliches Denken versucht nun, zu Gesetzmäßigkeiten und Regeln in diesem Konvult zu kommen. Dies gelingt aber erst, wenn wir von bestimmten Eigenschaften absehen, wie das Beispiel des Fallgesetzes demonstriert hat. Ziehen beschreibt den Vorgang so: Wir können das subjektive Psychische
Das, wovon hier abstrahiert wird, nennt Ziehen N-Komponente oder Parallelteil (weil es dem sogenannten Physischen parallel geht), das, was nach dieser Reduktion übrigbleibt, heißt bei ihm Reduktionsbestandteil. Jede N-Komponenten (also unsere Gefühle und Empfindungen) läßt sich beschreiben anhand von fünf Parametern: Qualität (Gelb, Ton C', Schmerz), Intensität (hell, laut, stark), Lokalität (hoch, über, neben), Temporalität (vorher, gleichzeitig, nachher) und dem Gefühlston (angenehm, unangenehm). Die Gefühlstöne haben dabei nicht mehr oder weniger Bedeutung im Vergleich zu Qualität, Intensität usw. Es hat offenbar nach Ziehen
Ziehen´s Determinismus zeigt sich z.B. in seiner Überzeugung, daß die eben aufgezählten Eigenschaften der Empfindungen und Vorstellungen völlig ausreichen, um den Ablauf des Denkens und Handelns zu bestimmen, ja es ist sogar dabei eine Welt ohne Gefühlstöne, d.h. ohne affektive Momente, denkbar.
Ziehen unterscheidet zwischen objektiven Werten - deren Auffinden er für Fragwürdig hält - und "überindividuellen" Werten, die zwar nachweisbar, aber keinesfalls mit den ersten identisch sind. Logik, Ästhetik und Ethik haben für ihn eine große Nähe zur Psychologie mit dem Unterschied, daß sie alle drei "den Wertbegriff in das Gegebene einführen oder - richtiger gesagt - Wertbegriffe aus dem Gegebenen entwickeln", d.h. diese Wissenschaften verbinden die von ihnen im Gegebenen gefundenen Gesetze "in einer aufklärungsbedürftigen Weise" irgendwie mit einem "Sollen" (vgl. Ziehen 1915, I, 215).(5)
In seinem Vortrag zum Thema Das Problem der Gesetze (1927) legt Ziehen noch einmal ganz unmißverständlich dar, daß die sogenannten Naturgesetze - d.h. die Kausalgesetze - keinerlei Entwicklung oder Veränderung in der Zeit unterliegen, was natürlich mit der Konzeption des Gesetzesbegriffs zusammenhängt. Ein Stück weit anders fast er die sogenannten Parallelgesetze: sie treten - wenn man im Einklang mit den Naturwissenschaften von der Entwicklung des Lebendigen ausgeht - erst später, d.h. im Laufe der Zeit auf. So sind z.B. Farbqualitäten erst denkbar mit der Ausbildung von Sehorganen.
Und wenig später heißt es: [p218]
Diese hier gleichsam in einem Nebensatz gefallene Äußerung Ziehens möchte ich im folgenden Aufgreifen und nun mit Hilfe einiger Überlegungen Böhme's ein Modell epigenetischer Entwicklung von Weltdeutung und Welt formulieren.
Für Gernot Böhme(6) (*1937) ist die These, daß die Wirklichkeit wenigsten zu einem Teil und in einer gewissen Hinsicht begrifflich verfaßt sei, eine philosophische These, die auf dem ersten Blick im Widerspruch steht zu dem, was man so gemeinhin glaubt: Was begrifflich verfaßt ist, könnte auch anders sein; Wirklichkeit hingegen ist faktisch und kompakt. In seinem Aufsatz über Die begriffliche Verfaßtheit der Wirklichkeit (1995) argumentiert er für die These, "daß auch die begrifflich verfaßte Wirklichkeit, und zum Teil sogar wegen ihrer begrifflichen Verfaßtheit inert ist, träge, schwer zu ändern" (225).
Die "Konfrontation mit der Wirklichkeit" ist nicht primär begrifflich bestimmt. Der Charakter der Aufdringlichkeit, der Widerständigkeit, der Unbestreitbarkeit ist für die Wirklichkeit der Wirklichkeit entscheidend. Allerdings kann die Erfahrung der Aufdringlichkeit und Widerständigkeit durch die Thematisierung modifiziert werden. Ein schönes Beispiel hierfür - welches Böhme auch zitiert - findet sich in Kants Schrift Der Streit der Fakultäten (1798), in der Kant, der zur Hypochondrie neigte, die Ursache hierfür nicht im Seelischen suchte, sondern als körperliche interpretierte:
Durch die Thematisierung, d.h. dadurch, das etwas als etwas angesprochen, betrachtet oder behandelt wird, bekommt die Wirklichkeit ihre begriffliche Verfaßtheit. An diesem Beispiel läßt sich auch Zweiwertigkeit dieser Verfaßtheit zeigen: zum einen gibt es die Freiheit, das Leiden als seelisches aufzufassen oder, wie Kant es tut, es als körperliches zu thematisieren. Mit der so durchgeführten Thematisierung aber wird auch vieles festgeschrieben: Eine mögliche Behandlung des Leidens als seelisches steht nicht zur Debatte, seine mechan(ist)ische Erklärung hilft, das Leiden zu mindern.
Wichtig ist nun Böhmes Feststellung, daß die Thematisierung der Wirklichkeit eine zweite Form von Unverrückbarkeit aufprägt. Bestimmte Problemlösungsmöglichkeiten werden durch die Art der Thematisierung vorgegeben:
Im Folgenden unterscheidet Böhme zwischen der Wirklichkeit, die uns als Natur begegnet, und zwar sowohl als äußere als auch als die Natur, die wir selbst sind, und der Wirklichkeit, die uns als Gesellschaft begegnet. Unsere Sprache richtet sich nicht (mehr) an die Natur, wie in beschwörenden, magischen Praktiken der Frühzeit vielleicht, sondern an die gesellschaftliche Wirklichkeit durch den oder die Anderen. Zu den fast ausschließlich begrifflich geprägten Wirklichkeiten gehören die rechtlich vermittelte, die pädagogisch geprägte im Sinne von Sitten, Rollen und Status. Wir wachsen als Menschen genau so in die Sprache hinein wie in die Natur. Die Kategorien, mit denen wir die Wirklichkeit zur Sprache bringen scheinen von daher dieselben zu sein, mit denen sich die Wirklichkeit uns aufdrängt.(7) [p220]
Die begriffliche Prägung der Wirklichkeit kommt nicht nur und nicht immer durch sprachliche Begriffe im strengen Sinne zustande, sondern ganz allgemein durch die Art und Weise unserer Rede über Wirklichkeit. Dabei stellt die Sprache neben den Begriffen noch eine Reihe anderer Muster zur Verfügung, wie zum Beispiel Satz- und Erzählstrukturen, Eigennamen, Partikel, Metaphern und Tropen. Begriffe scheinen zwar immer mit Sprache verbunden, aber auch im nichtsprachlichen Bereich - z.B. bei der Wahrnehmung - können sie "nichtsprachlich" prägend wirken.
Böhme führt am Begriff "Kreis" einige dieser Möglichkeiten vor: Sicherlich ist "Kreis" zunächst einfach zu verwenden im Sinne eines Prädikats, welches mehreren Gegenständen zukommt, auch als in vielen Vorstellungen enthaltene Teilvorstellung ist der Begriff als Bezeichnung für die Klasse der kreisförmigen Gegenstände sofort erkennbar. Aber man kann den Begriff "Kreis" auch definieren, wie es beispielsweise Euklid getan hat, als Menge all jener Punkte, die gleichweit von einem gegebenen Abstand entfernt sind. Andersherum kann diese Definition wiederum als Anweisung zur Konstruktion einer Kreisfigur mit Hilfe des Zirkels verwendet werden.
Man kann die Gestalt des Kreises darüber hinaus auch als Organisationsprinzip unserer Wahrnehmung beschreiben; so haben z.B. die Gestaltpsychologen festgestellt, daß wir die unserer Wahrnehmung angebotene Datenmenge nach Möglichkeit als bestimmte Grundfiguren sehen, wie z.B. als Kreise, Ellipsen, Dreiecke, Geraden usw. Das ist also eine unbewußte Organisation der Datenmenge anhand einiger "vorgegebener" begrifflicher Organisationsprinzipien oder Schemata. [p221]
Dieser Vorgang der Prägung ist nichtsprachlich und legt nahe, Begriffe nicht auf die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke einzuschränken. Böhme empfiehlt, sie allgemeiner als Regeln oder Schemata zu definieren (vgl. Böhme 1995, 230f), wie es etwa auch Kant versteht, wenn er schreibt:
Wenn wir nun weiter darauf sehen, wie der Begriff "Kreis" verwendet wird, finden wir ihn als Bezeichnung für einen Regierungsbezirk oder eine Gruppe (einen Kreis) von Leuten, man redet auch von Kreisen, in denen man sich bewegt oder vom Kreiseln um irgend etwas, bezeichnet eine Kante als kreisrund usw. Hier zeigt sich, daß die Verwendung eines Ausdrucks gestützt und getragen wird von einer ganzen Reihe von Bedeutungen, die den Rahmen vorgeben, in welchem der Begriff in seinen verschiedenen Formen angewendet werden kann. Man kann sich das ganze wie ein Netzwerk von Bedeutungen vorstellen, die sich gegenseitig stützen und anregen.
An einigen anderen Beispielen zeigt Böhme jene Zusammenhänge auf, die die Frage, wie etwas genannt und vor welchem Hintergrund schon geglaubter Wahrheiten etwas thematisiert werden kann, erhellen. Er schreibt:
Seit Kant bezeichnet man die sprachlich- begriffliche Prägung der Wirklichkeit als Gegenstandskonstitution. Sie beruht, so erkannte Kant, auf der Fähigkeit, die Mannigfaltigkeit des Gegebenen zu bestimmten Einheiten zu verbinden. Die bekanntesten Beispiele dafür sind das Dingschema, nach welchem wir die Wirklichkeit nach dem Schema von einem Etwas mit Eigenschaften erfahren oder das Kausalschema, nach dem wir das Gegebene nach Ursache und Wirkung ordnen. Diese beiden Schemata sind Beispiele dafür, daß es außerordentlich schwer sein kann, solche Prägungen in Frage zu stellen und Alternativen dazu aufzuzeigen. Im Gegenteil erweist sich die begriffliche Prägung der Wirklichkeit als recht verbindlich. Dabei ist sie bei weitem nicht nur ein erkenntnismäßiger Vorgang, sondern zu einem sehr wesentlichen Teil ein sozialer.
Böhme sieht die Aufgabe der Philosophie darin, diese begrifflichen Prägungen aufzuweisen, Alternativen dazu zu entwickeln oder vorhandene Alternativen stark zu machen; wir werden gleich noch davon hören.
Wenn ich nun einige Aspekte des "narrativen" Ansatzes von Paul Ricœur(8) (*1913) aufgreife, geht es mit hier nur um jenen verkürzten Teil, der die Verbindung zwischen dem "erzählten Leben" und der ethischen Dimension behandelt. Ich stelle also weder den ganzen Ansatz Ricœur's vor noch erlaube ich mir hier ein Urteil darüber.(9)
Ricœur's Grundthese ist, daß sich der logische Status von "Person" - also die Frage, was Dinge und Personen unterscheidet - erst dann klären läßt, wenn die Unterscheidung zwischen Selbigkeit und Selbstheit volle Beachtung findet. Selbigkeit - in Sinne des lateinischen idem - bezeichnet die "Ding- Identität", z.B. wenn ich sage, dies ist derselbe Baum, den ich schon im Frühjahr habe blühen sehen. Selbstheit - im Sinne des lateinischen ipse - findet Verwendung, wenn ich mich selbst bezeichne, also auf mich "referiere" in einer Aussage. Des weiteren schließt Ricœur an Hegel an, wenn er davon ausgeht, daß der Selbstbezug der [p223] Person nur über die Vermittlung anderer Personen geschehen kann, was ja heißt, daß der Andere "konstitutiv" ist für das Selbst.
Mir geht es hier um Ricœur's Überlegungen, daß sich das "Selbst" konstituiert durch die Zuschreibung - durch sich selbst und durch die Anderen - und Aneignung jener "Erzählungen", als die man als die Lebensgeschichte und den Lebensentwurf einer Person verstehen kann, vergleichbar dem 'Lernprozeß', wie ihn Tetens (vgl. Anm. 7) beschrieben hat.
Die Person, die in der Erzählung vorkommt, ist dabei keine von ihren "Erfahrungen" verschiedene Entität - also hier die "Erfahrung", dort die Person -, sondern sie hat Anteil an dem Regelsystem der erzählten Geschichte. Was heißt das?
Die Idee der Kausalität besteht in einem anfanglosen und ununterbrochenen Fortgang, eine Handlung hingegen ist bestimmt von der Vorstellung, den Anfang einer Kausalen Reihe zu setzen. In der Erzählung nun wird der Person die Macht zugesprochen, eine Ereignisreihe anzufangen. Dieser Anfang ist zugegebener maßen kein absoluter Anfang, kein Anfang der Zeit. Aber der Erzähler hat die Möglichkeit, den Anfang, die Mitte und das Ende einer Handlung festzulegen. Somit wird die Struktur der Kausalität nicht unterbrochen, sondern aufgebrochen.
Der Fluß der Erzählung scheint aber durch das hereinbrechen unvorhersagbarer Ereignisse (zwar sind sie kausal, aber sie kommen gleichsam von außen in die Geschichte) bedroht: das können Begegnungen, Zwischenfälle verschiedenster Art sein. Diese Ereignisse werden nun - gewissermaßen nachträglich -in die Lebensgeschichte hineingenommen, und so der Zufall in ein Geschick verwandelt. Jetzt zeigt sich, was es heißt, daß die Person Anteil am Regelsystem der Geschichte hat: Die Erzählung konstruiert die Identität der Figur, die man ihre narrative Identität nennen darf, indem sie die Identität der erzählen Geschichte konstruiert. Es ist die Identität der Geschichte, die hier die Identität der Figur oder "Person" bewirkt. "Erzählen" heißt dabei nichts anderes, als "zu sagen, wer was getan hat, wie und warum - indem man die Verknüpfung zwischen diesen Gesichtspunkten in der Zeit ausbreitet" (Ricœur 1996, 181).
Die Konstitution der Identität zeigt sich weniger an den einzelnen Handlungen, sondern eher an den sogenannten "langen" Praktiken wie Berufe, Spiele, soziale Rollen, Künste usw. Diesen ist eigen, daß sie durch jeweils spezielle Regelsysteme beschrieben werden, die sie konstituieren. So wie dem Setzen eines Spielsteins erst durch den Regelzusammenhang eines Brettspiels ein Sinn innerhalb des Spiels zuwächst, bekommen bestimmte Einzelhandlungen durch die Geschichte einen Sinn im Leben. Die jetzt gewonnene narrative Einheit des Lebens, d.h. das Selbst als seine Geschichte, summiert nun nicht einfach die verschiedenen Praktiken, sondern setzt auf der Grundlage eines Lebensentwurfes diese [p224] Praktiken und auch verschiedene Einzelhandlungen antizipatorisch in Beziehung zueinander, ein Vorgang ähnlich dem des hermeneutischen Verstehens. Dort werden Teile eines Textes - etwa einzelne Sätze - in Beziehung zur antizipierten Ganzheit des Textes in Beziehung gesetzt.
Dies hat - und das ist der spannende Punkt bei Ricœur - immer schon eine ethische Dimension. Ricœur entgeht hier der Gefahr eines Fehlschlusses, den man immer dann begeht, wenn man aus einer deskriptiven Theorie normative Aussagen folgern will. Nach Ricœur schreibe ich mir bei meiner Selbstbeschreibung auch bestimmte Eigenschaften und Möglichkeiten zu, die oft gerade aus den schon erwähnten langen Praktiken der Schule, des Berufes usw. stammen. Noch einmal: wenn ich mich beschreibe, schreibe ich mir auch bestimmte Eigenschaften und Möglichkeiten zu. Damit verbinde ich immer einen gewissen Projektcharakter - ich beschreibe mich / werde beschrieben als jener, der ich einmal zusein wünsche, fürchte, hoffe usw. Das adskiptive Moment der Zuschreibung von Möglichkeiten, die sich aus den langen Praktiken ergeben, beinhaltet damit schon ein präskriptives Moment meiner selbst auf die Zukunft hin.
Diese Erkenntnis ist wichtig, um dem Fehlschluß von einer Beschreibung auf eine Vorschrift vorzubeugen. Es handelt sich nämlich hier nach Ricœur lediglich um eine Explikation dessen, was in der (projektiven) Selbstbeschreibung implizit enthalten ist, und nicht um einen "Themenwechsel". Hier wird in der antizipatorischen Zusammenfassung des Lebens dieses als ganzes einer Bewertung als gutes oder schlechtes unterzogen Daher nennt er die Erzählung auch "Laboratorium des moralischen Urteils" (173).
Ist es also möglich, wie die Vorstellung des Erzählens vielleicht suggerieren mag, seine Geschichte nach belieben zu erzählen, Fäden beliebig weiter zu spinnen, abzuschneiden und neu zu knüpfen? Richard Rorty radikalisiert im Vorwort zu seiner Essaysammlung Eine Kultur ohne Zentrum (1993) einen Vorschlag Daniel Dennetts, nach dem das menschliche Ich als "narrativer Schwerpunkt" vorzustellen sei. Dabei sei es denkbar, "sich selbst zu erschaffen" durch eine Selbst- Neubeschreibung, wie sie sich z.B. auch in Arbeiten von Sartre und Charles Taylor findet. Nach diesen Vorstellungen würde sich das Ich ändern, sobald es eine andere Geschichte darüber erzählt, wer es selbst sei. Die Radikalisierung Rortys besteht nun in dem Vorschlag, "noch einen Schritt weiter[zu]gehen und nicht bloß die Ichs, sondern alle Gegenstände als Schwerpunkte der Beschreibung an[zu]sehen, die sich ändern, sobald sie verschieden [p225] beschrieben werden" (Rorty 1993, 9). Und auch der Radikale Konstruktivismus tendiert in eine ähnliche Richtung.
Ich möchte noch einmal an zwei Beispielen aufzeigen, daß diese ambivalente Erfahrung von Freiheit und Determiniertheit auch auf anderen Gebieten festzustellen ist. Reinhold Mokrosch (1998) diskutiert die Alternativen, ob das Gewissen als personale, authentische, individuelle und ureigenste Wert- und Normeninstanz zu verstehen ist oder als Aggregat gesellschaftlicher Normen, welches der Mensch lediglich rezipiert. Dazu stellt er zunächst unterschiedliche Gewissenskonzepte vor, sucht dann aber einen Standpunkt außerhalb dieser Dichotomie. Für ihn "ist das Gewissen ein rein ontologisch, vorempirisches Existential, das ich nur in seinen ontischen Auswirkungen, nicht aber in seinem An-sich-Sein erkennen kann" (Mokrosch 1998, 262). Neben der Problematik eines Schlusses von einer Wirkung auf die Ursache(10), deren Diskussion hier zu weit führen würde, zeigt der Aufsatz die Unhintergehbarkeit dieses Phänomens, welches in Anlehnung an Heidegger als Urexistential gekennzeichnet wird.(11) Martin Heidenreich (1988) berichtet von der Diskussion in den Sozialwissenschaften um das Verhältnis der verhaltensprägenden Kraft des Gesellschaftlichen und/oder der strukturprägenden Kraft der individuellen Praktiken. Die an dem Begriffspaar Struktur und Handlung - oder neuerdings Mikro- und Makroebene - orientierten Theorien stehen aber vor dem Problem, daß die Gegensatzpaare analytisch nicht unabhängig sind: zwar prägen die gesellschaftlichen Wahrnehmung- und Handlungsmuster die individuellen Handlungsmuster, aber diese manifestieren sich wiederum nur in den konkreten sozialen Vollzügen.
Böhme (1995) begrüßt einerseits die Förderung des menschlichen Freiheitsbewußtseins, die Ermutigung der Kreativität und die durchaus vorhandene Möglichkeit, einzelne gelegentlich aus aussichtslosen und depressiven Lagen zu befreien, die von diesen Philosophien ausgeht. Aber sie erzeugen auch Illusionen, denn die Wirklichkeit ist zwar auch begriffliche verfaßt, aber nicht nur, wie oben dargelegt. Man muß sich also davor hüten zu glauben, daß sich die Wirklichkeit völlig beliebig uminterpretieren ließe. Ich bin daher geneigt, die feste Verfaßtheit des Begrifflichen als Quasi- Determinismus zu bezeichnen.(12) [p226]
Es ist noch zu klären, warum ich für meine Überlegungen den Titel solipsistische Ethik gewählt habe, zumal der Solipsismus als philosophische Position behauptet, daß einzig das dem Bewußtsein unmittelbar Gegebene real sei bzw. in einer schwächeren Lesart, daß alles Wissen über die Welt außerhalb des Selbst auf dem Bewußtsein unmittelbar gegebener Wahrnehmungsdaten beruhe. Descartes verwendet in seinen Meditationen als methodischen Ausgangspunkt die Auffassung, daß allein das Selbst real ist, um sie dann zum Abschluß der Untersuchung allerdings als absurde These hinzustellt.
Von diesen beiden Varianten des Solipsismus ist der sogenannte methodologische Solipsismus zu unterscheiden. Rudolf Carnap hat - in seinem Werk Der logische Aufbau der Welt - als Basis eines Konstitutionssystems nur solche Gegenstände zugelassen, die bewußt einem Subjekt zugehören. Er hat es als das Eigenpsychische bezeichnet. Diese Art der Grundlegung nennt er "methodischen Solipsismus", der nicht als Beschränkung auf ein Subjekt verstanden werden darf, sondern als methodische Beschränkung auf das tatsächliche Erlebte. An diesem Punkt beruft sich Carnap ausdrücklich auf Ziehen und reiht ihn unter jene, die ebenfalls einen methodischen Solipsismus vertreten. Da Ziehen als Ausgangspunkt des Gegebenen nur "eine Reihe" von Gignomenen zugrunde legt, und zwar "die von mir erlebte" (vgl. Ziehen 1913, 277), kann man seinen Standpunkt durchaus als methodischen Solipsismus bezeichnen.
Den methodischen Sinn einer Erzählung des eigenen Lebensentwurfes - und hier ist der eines jeden Einzelnen gemeint - sehe ich darin, daß nichts als bloß vorgegeben akzeptiert wird. Jeder soll sich sein soziales Wesen, das selbstverständlich zu ihm gehört, bewußt aneigenen können. Ich kann zwar alleine spielen, Gartenbau betreiben, sogar allein Forschung in einem Labor, einer Bibliothek oder in seinem Schreibzimmer betreiben; aber die Fertigkeiten solcher Praktiken stammen von viel weiter her als von einem einsam Ausführenden. Von einem Anderen lernt man die Praktiken einer Geschicklichkeit, eines Berufes, eines Spiels, einer Kunst; und das Erlernen wie das Training beruhen auf Traditionen. Diese müssen zwar zunächst übernommen werden, aber sie können in der Lebensgeschichte auch verändert und überschritten werden. Dazu gehört das, was Böhme als Aufgabe der Philosophie so beschreibt:
Jeder soll sich also bewußt aneignen oder auch ablehnen können, was zu seinem Lebensentwurf gehört. Die methodische Bedeutung des Rekurses auf das Individuum - der methodisch solipsistischen Ethik - liegt darin, das die Entscheidung des Individuums die einzig denkbare Berufungsinstanz ist, von der her Praktisches begründbar ist.
Die überkommenen Begründungsstrategien für Ethik lassen sich, wie ich meine, kaum mehr ernsthaft vertreten, wenn sie nicht beim Individuum beginnen. Diese Überlegungen sollen zeigten, daß es geht. Ich möchte an dieser Stelle vier Gründe benennen, die für eine individuelle Ebene der Ethik sprechen:
1) in einer individuellen Ethik lassen sich die Motive finden für die Moralität, d.h. für das Überschreiten der Eigenperspektive zugunsten Anderer;
2) die Fähigkeit zur Moralität setzt ein starkes Selbst voraus. Die Herausbildung eines solchen starken Selbst gehört in den Aufgabenbereich der Selbst- und Lebensgestaltung.
3) Moralität realisiert sich im engen persönlichen Raum.
4) Ich glaube nicht an (allgemeinverbindliche) Letztbegründungen. Die Moral gründet in der Ethik und diese im einzelnen.
Verzichtet eine Ethik, die von einer methodisch-solipsistischen Grundlage ausgeht aufgrund dieser Methode darauf, Vorschriften für die Menschen zu machen, muß das nicht unbedingt und prinzipiell als Schwäche verstanden werden. Sie hat - im Zusammen der hier vorgestellten Ansätze, eine ebenso plausible wie komplexe Aufgabe. Ich sehe den Schwerpunkt - durchaus in Anlehnung an Thomä 1997 - "im Deskriptiven" (ebd. 175). Ihre besondere Fähigkeit liegt demnach in einer "dichten" Beschreibung von Lebensformen. Durchaus im Sinne Böhme'scher "Begriffsarbeit" kann so verstandene Ethik in der Beschreibung verschiedene Lebensformen gleichsam "auskosten" - hierin dem Ricœur'schen "Testlabor" entsprechend - indem sie die Begriffe bis auf ihre Grenze ausprobiert, dabei auf Implikationen und "Nebenwirkungen" stoßend, die manchem weniger weit Nachdenkendem verborgen bleiben. So können ebenso Alternativen entdeckt werden wie schon bekannte Ideen kritisch in Frage gestellt werden.
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Die Internet-Fassung wurde leicht gekürzt. Das Verzeichnis der Literatur und die Anmerkungen finden Sie in der Printausgabe. Auf Wunsch kann ich sie Ihnen auch zusenden, wenn Sie mir schreiben ziehen@stork-herbst.de
Solipsistische Ethik Aus: AISTHESIS. Die Wahrnehmung des Menschen. Gottessinn. Menschensinn. Kunstsinn. Ein interdiszipliniertes Symposion herausgegeben von Harald Schwaetzer und Henrieke Stahl-Schwaetzer. (Philosophie Interdisziplinär Band 1) Regensburg: S. Roderer Verlag 1999. S. 213-229